Alte Freunde - Alte Feinde von Inque

#1 von Petra-Andreas , 14.05.2007 22:59

Alte Freunde - Alte Feinde

Autor: Inque


Kapitel 1


Playa de Corralejo
Fuerteventura

21:30 Uhr Zulu

Es regnete. Angeblich sollte es im September auf Fuerteventura keinen einzigen Regentag geben, doch ausgerechnet jetzt goss es in Strömen. Zwei Gestalten, ein Mann und eine Frau, liefen lachend Hand in Hand durch den Regen. Sie liefen durch die engen Gassen, vorbei an den alten Häusern. Eigentlich machte ihnen den Regen nicht viel aus, denn er war angenehm warm und prickelte auf der Haut. Doch es war schon dunkel, und um diese Zeit sollte man als Tourist nicht unbedingt noch draußen unterwegs sein. Unter einem Vordach hielten sie kurz an, um sich zu orientieren.

„Geht es noch?“, fragte Harm seine im vierten Monat schwangere Frau. Mac war etwas außer Atem, aber sie fühlte sich bestens. „Mir geht es gut, keine Sorge“, beruhigte sie ihren Mann lächelnd. Je weiter ihre Schwangerschaft fortschritt, desto mehr neigte Harm dazu, sie in Watte packen zu wollen. „Weißt du, in welche Richtung unser Hotel liegt?“ fragte sie ihn. „Ich glaube, wir müssen da lang“. Er zeigte geradeaus.

Harm sah Mac an. Durch den Regen war sie ganz durchnässt, und eine Haarsträhne klebte auf ihrer Wange. Zärtlich strich er sie zur Seite. Seit sie schwanger war, schien Mac von Tag zu Tag schöner zu werden. Sie strahlte etwas aus, das schwer zu beschreiben war. Es war wie ein inneres Leuchten. Oft lächelte sie einfach nur so vor sich hin, schien wie in einer anderen Welt zu schweben. Die befürchteten Stimmungsschwankungen hatten sich bisher auch in Grenzen gehalten, im Gegenteil: so glücklich hatte er sie selten erlebt.

Mac bemerkte, dass Harm in Gedanken gerade weit weg war und sie unentwegt ansah. „Was ist?“ fragte sie lachend. „Ist mir vielleicht eine zweite Nase auf der Stirn gewachsen?“
„Nein… ich musste nur gerade daran denken, wie wunderschön du bist“, lächelte er zurück.
„Ja sicher, ich bin bestimmt der Traum aller Männer… patschnass und mit einem Bauch, der sich gerade in einen Basketball verwandelt….“ Mac grinste ihn schief an.
„Mein Traum auf jeden Fall…“ sagte er leise und zog sie ihn seine Arme. Leidenschaftlich küsste er sie. Seine Lippen wanderten ihren Hals hinab und küssten die kleinen Regentropfen weg, die sich dort gesammelten hatten. „Harm, nicht hier…“, kicherte Mac. „Was denn, Marine, bist du etwa schüchtern?“ fragte Harm, während er sich an ihrer Schulter wieder hocharbeitete.
„Schüchtern sicherlich nicht, aber auch keine Exhibitionistin. Außerdem wird mir langsam kalt. Lass uns zurück ins Hotel, ja?“ Mac hatte sich etwas von ihm gelöst und sah ihn mit einem verführerischen Augenaufschlag an. Diesem Blick konnte Harm nicht widerstehen, und plötzlich hatte er es sehr eilig, weiterzukommen. Grinsend zog er Mac hinter sich zurück in den Regen, die das ganze nur mit einem Lächeln und einem Kopfschütteln quittierte.


Einen Monat zuvor

Botschaft der USA
24 Grosvenor Square, London
20:12 Uhr Zulu

„Ah, Captain Rabb! Wir haben Sie bereits erwartet! Gut sehen Sie aus.“ Freudig begrüßte Botschafter Paul Stevenson Harm, als dieser mit Mac am Arm die Botschaft betrat. Der Botschafter hatte zu einem Ball geladen, um die Wiedereröffnung der Botschaft nach dem Bombenanschlag zu feiern. Und Harmon Rabb war als dessen Lebensretter natürlich als Ehrengast eingeladen worden. „Danke, Sir!“ Harm schüttelte dem Botschafter die Hand.
„Mrs. Rabb, Sie sehen heute Abend ganz bezaubernd aus!“ Galant küsste er Mac die Hand. Sie trug ein langes, schwarzes, ärmelloses Abendkleid mit v-förmigem Dekolleté, dazu lange schwarze Handschuhe, während Harm seine Gala-Uniform trug. „Danke, Herr Botschafter“, erwiderte Mac freundlich.

Botschafter Stevenson geleitete die beiden ins Innere des Ballsaals. „Genießen Sie den Abend! Wenn Sie mich bitte entschuldigen, die Pflicht ruft.“ Und schon eilte er davon, um die nächsten Gäste in Empfang zu nehmen.

„Okay, wo ist das Büffet?“ fragte Mac und schaute sich um.
„Darling, wir sind doch eben erst eingetroffen. Sollten wir nicht vielleicht erst einmal nach ein paar bekannten Gesichtern Ausschau halten, bevor du das Büffet plünderst?“ versuchte Harm sie von ihrem Vorhaben abzubringen.
„Du hast wohl vergessen, dass ich jetzt für zwei essen muss“, warf sie grinsend ein.
„Ich dachte eigentlich, dieses Stadium würde erst später kommen?“ Fragend zog er eine Augenbraue hoch.
„Theoretisch vielleicht. Aber ich finde, dass man damit gar nicht früh genug anfangen kann. Aber meinetwegen… schauen wir erst, ob wir hier jemanden kennen. Aber DANN gehen wir zum Büffet, okay?“
„Angebot akzeptiert, Marine. Na komm…“ Gemeinsam schlenderten sie durch die Reihen der anwesenden Gäste, aber bis auf ein paar weitere Navy-Angehörige aus dem JAG-Büro kannten sie niemanden. So kam Mac’s Magen schneller als erwartet zu seinem Recht.


Botschaft der USA
24 Grosvenor Square, London
21:30 Uhr Zulu

„Liebe Gäste, es freut mich, dass Sie so zahlreich erschienen sind, um heute Abend mit mir den Wiederaufbau der Botschaft zu feiern“, begann Botschafter Stevenson mit seiner Rede vor den versammelten Gästen.
„Wie Sie wissen, hat ein abscheuliches Attentat diesen Ort des Friedens und der Diplomatie erschüttert. Einige unserer Mitarbeiter wurden dabei verletzt, zum Teil hätten Sie fast mit dem Leben dafür bezahlt. Doch zum Glück darf ich mitteilen, dass inzwischen alle wohlauf sind!“ Die Anwesenden applaudierten, und der Botschafter hatte einige Mühe mit seiner Rede fortzufahren.
„Einem bestimmten Menschen gilt mein persönlicher Dank, denn ohne ihn stünde ich möglicherweise nicht hier vor Ihnen. Und als Anerkennung seines Einsatzes, den er unter Gefährdung seiner eigenen Gesundheit geleistet hat, ist es mir eine Ehre, dieser Person heute Abend einen Verdienstorden überreichen zu dürfen. Ladies und Gentlemen, ich darf Ihnen vorstellen: Captain Harmon Rabb! Captain, kommen Sie bitte zu mir!“

Wieder brandete Applaus auf. Harm war die Situation sichtlich unangenehm, doch er setzte ein Lächeln auf und begab sich zum Botschafter. Mac, die mit dem inzwischen eingetroffenen Admiral Wilson zwischen den Gästen stand, war umso stolzer auf ihren Mann und klatschte begeistert mit. Sie strahlte über das ganze Gesicht, als der Botschafter den Orden an Harm’s Uniform befestigte und ihm die Hand schüttelte. Dutzende von Kamerablitzen erhellten den Raum, denn natürlich war die Presse auch anwesend, um den heldenhaften Navy-Offizier endlich vor die Kamera zu bekommen. Zu allem Übel forderte der Botschafter Harm auch noch dazu auf, ein paar Worte zu sagen. Normalerweise war er ja nie um Worte verlegen, aber so dermaßen im Rampenlicht zu stehen, behagte ihm nicht so recht.

„Herr Botschafter, verehrte Gäste, ich bedanke mich für die erhaltene Auszeichnung. Ich denke jedoch nicht, dass es ein ausgesprochener Verdienst ist, was ich getan habe. Jeder gute Offizier hätte in dieser Situation das gleiche getan, davon bin ich überzeugt. Vielen Dank.“ Harm hielt seine „Rede“ so kurz wie möglich und begab sich dann unter dem Applaus der Gäste zurück zu Mac und dem Admiral.

„Keine falsche Bescheidenheit, Captain“, empfing Admiral Wilson ihn, „es gehört sehr viel Mut zu dem, was Sie getan haben. Und ich wünschte, dass jeder Offizier tatsächlich so mutig wäre wie Sie.“
„Admiral Wilson hat Recht. Ich bin ja so stolz auf dich!“ strahlte Mac und umarmte ihren Mann. „Dann habe ich mir doch jetzt erstmal ein Tänzchen mit dir verdient“, grinste Harm zurück. „Wenn Sie uns entschuldigen würden, Admiral?“ Mit diesen Worten zog er Mac auf die Tanzfläche.

Stattdessen gesellte sich Botschafter Stevenson zu Admiral Wilson. „Wo haben Sie denn Ihre Gattin heute Abend gelassen, James?“
„Nancy lässt sich entschuldigen, sie fühlte sich nicht sehr gut. Ich soll Sie aber herzlich grüßen, Paul.“
„Dann richten Sie ihr bitte ebenfalls meine Grüße aus.“ Der Botschafter und Admiral Wilson schauten beide Richtung Tanzfläche, wo Harm mit Mac über das Parkett wirbelte.
„Guter Mann, der Captain. Und anscheinend nicht nur ein guter Anwalt, sondern auch ein guter Tänzer.“

Wilson lachte. „Da haben Sie wohl Recht. Aber ich könnte mir tatsächlich keinen besseren vorstellen, dem ich das Kommando übertragen würde, wenn ich im November in Pension gehe.“
„Haben Sie sich jetzt doch dazu entschieden, den aktiven Dienst zu verlassen. Schade, ich habe gern mit Ihnen zusammengearbeitet, James. Und Sie sind sich sicher, dass Captain Rabb so weit ist, um solch ein großes Kommando zu übernehmen? Immerhin kennen Sie ihn noch nicht so lange.“

„Da haben Sie zwar Recht, Paul, aber ich erkenne einen guten Offizier, wenn ich ihn sehe. Außerdem hatte ich das Vergnügen der Hochzeit der beiden beizuwohnen, und ich habe dort seine ehemaligen CO’s Admiral a.D. Chegwidden und General Cresswell kennengelernt. Und die haben mir meine Einschätzung bestätigt.
Daher habe ich keinerlei Bedenken, dem Secnav Captain Rabb als neuen JAG Europe vorzuschlagen.“

„Haben Sie den Captain schon in Ihre Pläne eingeweiht?“
„Nein. Genau genommen sind Sie der einzige Mensch bisher, außer meiner Frau natürlich, der es weiß. Und ich möchte Sie bitten, darüber vorerst Stillschweigen zu bewahren. Ich will erst mit dem Secnav persönlich sprechen, bevor ich es bekannt gebe.“
„Natürlich, das bleibt unter uns. Wenn Sie aber zufällig noch so einen guten Anwalt übrig haben, dann lassen Sie es mich bitte wissen, James!“
„Warum, taugen Ihre Zivilisten etwa nichts, Paul?“ Admiral Wilson grinste bis über beide Ohren.

„Sie stellen unsere Freundschaft auf eine harte Probe, James“, lachte der Botschafter zurück. „Nein, im Ernst. Das Problem ist in der Tat, dass es sich um Zivilisten handeln, die eben nur von Zivilrecht Ahnung haben. In letzter Zeit hatten wir aber mehr als genügend Zwischenfälle, bei denen Militärangehörige sowohl der USA als auch anderer Länder involviert waren. Daher wäre ein Rechtsberater, der sich mit Militärrecht auskennt, eine echte Bereicherung für meinen Stab. Dann muss ich mir nicht ständig Leute bei Ihnen ausleihen!“ Admiral Wilson sah ihn nachdenklich an. „Ich wüsste da vielleicht jemanden, vorausgesetzt sie hat Interesse.“
„Sie?“

„Ja, ich meine Mrs. Rabb. Sie ist JAG-Anwältin gewesen und hat Captain Rabb während seines Krankenhausaufenthaltes vertreten. Sie hat ausgezeichnete Arbeit geleistet. Es ist wirklich schade, dass sie das Marine Corps verlassen hat.“
„Das wäre ja zu schön, um wahr sein. Dann frage ich sie am besten gleich.“
„Die Sache hat nur einen kleinen Haken, Paul. Sie und der Captain erwarten im Frühjahr ihr erstes Kind, das heißt sie wäre wohl nur vorübergehend verfügbar.“
„Nun, bis es soweit ist, habe ich immer noch genügend Zeit, um Ersatz zu beschaffen. Oder noch besser, sie arbeitet nach der Geburt halbtags weiter.“

In dem Moment kamen Harm und Mac von der Tanzfläche zurück. „Gut, dass Sie wieder zurück sind. Ich hätte da ein Angebot für Sie, Mrs. Rabb“, wandte sich Botschafter Stevenson sogleich an Mac.
„Um was geht es denn, Herr Botschafter?“ fragte sie neugierig. So konnte sich gar nicht vorstellen, was ausgerechnet der Botschafter von ihr wollen konnte.
„Nun, ich benötige einen Berater, der sich mit Militärrecht auskennt. Und Sie sind mit wärmstens empfohlen worden.“ Beim letzten Satz war der Blick des Botschafters zu Admiral Wilson hinübergewandert, so dass Mac sich denken konnte, wer diese Empfehlung ausgesprochen hatte. Mit einem Jobangebot hatte sie nun aber gar nicht gerechnet.

„Sir, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll….“
„Und dass kommt nicht oft vor…“, fiel Harm ihr grinsend ins Wort, wofür er sich gleich einen Klaps auf den Oberarm einfing.
„Ich fühle mich sehr geschmeichelt, Sir“, fuhr Mac fort, „aber ich fürchte ich kann Ihr Angebot aus persönlichen Gründen nicht annehmen.“
„Wenn Sie auf Ihre Schwangerschaft anspielen, Mrs. Rabb, da bin ich mir sicher, dass wir nach der Geburt eine Lösung finden werden.“ Als er den erstaunten Blick von Mac und Harm bemerkte, ergänzte er: „Der Admiral hat mich auf Ihre Situation bereits hingewiesen. Ich für meinen Teil sehe darin allerdings kein Hindernis. Also, was sagen Sie?“
Mac sah zu Harm hinauf, und in seinem Lächeln erkannte sie seine Zustimmung. Zum Botschafter gewandt antwortete sie: „Ich würde mich freuen, für die Botschaft arbeiten zu dürfen, Sir!“


Kapitel 2


Hotel Atlantis Palace
Playa de Corralejo
Fuerteventura
22:45 Uhr Zulu

Nach ihrer Ankunft im Hotel hatten es sich Mac und Harm in der Badewanne gemütlich gemacht. Zum Glück war sie recht groß, so dass sie beide bequem Platz darin fanden. Harm lehnte an der Wannenwand, Mac saß vor ihm und lehnte mit geschlossenen Augen an seiner Brust. Er hatte seine Arme um sie gelegt und fuhr unter Wasser mit den Fingern unsichtbare Linien auf ihrem mittlerweile leicht gewölbten Bauch nach. Von Zeit zu Zeit legte er auch einfach beide Handflächen ruhig auf ihren Bauch, so als wartete er bereits darauf, irgendeine Bewegung ihres ungeborenen Kindes zu spüren. Mac genoss seine zärtlichen Berührungen sehr, zeigten sie ihr doch, wie sehr er sie liebte und sich mit ihr auf das Kind freute. Überhaupt waren die letzten zweieinhalb Monate seit ihrer Hochzeit wunderschön gewesen. Harm hatte sich zum Glück vollständig von seinen Verletzungen erholt. Und seit sie begonnen hatte, in der Botschaft zu arbeiten, konnten sie jeden Tag gemeinsam zur Arbeit und zurück fahren und sich zum Mittagessen treffen.

Sie hatte nicht daran geglaubt, nach ihrem Abschied vom Marine Corps so schnell wieder eine Beschäftigung zu finden. Doch Harm hatte am Ende Recht behalten, dass dies nicht das Ende ihrer beruflichen Tätigkeit bedeuten musste. Die Finanzspritze konnten sie auch gut gebrauchen, denn schließlich mussten sie jetzt schneller als erwartet ein Kinderzimmer einrichten. Und nun waren sie hier an diesem wundervollen Ort, um sowohl ihren ersten gemeinsamen Urlaub als auch ihre Flitterwochen zu verbringen. Hätte sie in diesem Augenblick jemand gefragt, wie sie sich fühltes, ihre Antwort wäre vermutlich „Perfekt“ gewesen.

„Ob es Mattie wohl gut geht…“, murmelte Harm und riss Mac damit aus ihren Gedanken.
„Was…? Ja, bestimmt….“, antwortete sie leicht schläfrig.
„Vielleicht sollte ich sie anrufen, nur um sicher zu gehen….“
„Harm, sie ist kein kleines Kind mehr, sie ist 17. Mattie kann sehr wohl zwei Wochen allein zurecht kommen. Wahrscheinlich ist sogar ganz froh darüber, mal sturmfreie Bude zu haben. Außerdem hast du sie in den letzten sechs Tagen schon fünfmal angerufen. Mach dir also nicht so viele Sorgen….“
„Wahrscheinlich hast du Recht. Aber irgendwie ist sie halt mein kleines Mädchen, auch wenn vor allem SIE das ganz anders sieht.“
„Du vergisst da eine Kleinigkeit, Liebling. Sie ist jetzt UNSER kleines Mädchen, nur dass sie eben nicht mehr klein ist. Mattie ist für ihr Alter ungewöhnlich selbstständig, aber ich war damals auch nicht viel anders. Ich kann gut nachvollziehen, dass ihr zu viel Fürsorge etwas unangenehm ist.“

„Deshalb bist du für sie also so eine tolle Mom…“ Harm küsste Mac sanft auf die Schläfe.
„Ich bin keine gute Mom, eigentlich noch nicht mal eine Mom. Nur auf dem Papier bisher….“
„Mattie sieht das aber anders….“
„Tut sie das?“ fragte Mac überrascht.
„Ja. Sie hat mir neulich erzählt, dass sie sich keine bessere Ersatzmutter vorstellen könnte, auch wenn sie es dir gegenüber noch nicht so richtig zeigen kann.“
„Wow, das hätte ich nicht gedacht… dann hab ich wohl doch nicht soviel falsch gemacht wie ich bisher gedacht hatte“, lachte sie leise.
„Nein, hast du nicht….“ Harm drehte ihr Gesicht sanft zu sich um und küsste sie zärtlich. Der anfänglich sanfte Kuss wurde immer intensiver und leidenschaftlicher. Abrupt brach Harm ihn ab und sah Mac in die Augen.
„Was ist?“ fragte sie atemlos.
„Nichts, ich habe mich nur gefragt, ob wir das nicht lieber woanders fortsetzen wollen. Ich fange hier drin schon an, schrumpelig zu werden.“ Harm lächelte schelmisch.
„Das können wir natürlich nicht zulassen, Sailor, obwohl du ja eigentlich viel Wasser gewöhnt sein solltest“, grinste Mac zurück.

Harm stand als erster auf, verließ die Wanne und trocknete sich schnell ab. Er reichte Mac seine Hand, die nun ebenfalls aufstand und aus der Wanne stieg. Dann schnappte er sich ein großes Handtuch und begann damit, seine Frau trocken zu rubbeln, die die Prozedur kichernd über sich ergehen ließ. Als Harm damit fertig war, hob er Mac auf seine Arme und trug sie hinüber zum Bett, wo er sie sanft wieder absetzte. „Wo waren wir gerade stehen geblieben…?“ waren die letzten Worte, die in dieser Nacht gesprochen wurden.


Eine Woche später

Playa de Corralejo
Fuerteventura
17:23 Uhr Zulu

Mac saß am Strand und las. Die Sonne warf bereits lange Schatten, und vom Meer wehte eine sanfte Brise herüber, die die Luft mit dem typisch salzigen Geruch des Meerwassers erfüllte. Nachdem sie und Harm den halben Tag unterwegs gewesen waren, um auch die letzten Buchten auf ihrer Seite der Insel zu erkunden, war sie froh, einfach nur da sitzen zu können und auszuspannen. Für längere Strecken hatten sie zwar einen Wagen gemietet, aber viele Ecken waren einfach nur zu Fuß zu erreichen. Selten hatte sie so viele verschiedene Aussichten genießen können wie auf dieser Insel. Sowohl kilometerlange Sandstrände als auch grüne Hügel und karge Felsen, Fuerteventura vereinte alles in sich. Zu dieser Jahreszeit waren auch nur verhältnismäßig wenig Reisende unterwegs, so dass sie in Ruhe die einheimischen Küstenorte hatten besichtigen können, ohne ständig auf irgendwelche Touristengruppen zu stoßen. Das Problem war nur, dass Mac schneller aus der Puste kam, als sie es eigentlich gewohnt war. Natürlich war sie vor ihrer Abreise noch zur Kontrolle bei ihrem Gynäkologen, Dr. Martin, gewesen, und der hatte ihr versichert, dass die Reise keinerlei Risiken für ihre Schwangerschaft bedeuten würde. Aber er hatte ihr das Versprechen abnehmen müssen, sich nicht zu überanstrengen und möglichst häufig zu entspannen. Und in Harm hatte sie einen Aufpasser, der mit Argusaugen darüber wachte, dass sie diese „Auflagen“ auch ja einhielt. Gelegentlich musste sie ihn jedoch daran erinnern, dass sie nicht krank sei, sondern „nur“ schwanger.

Während Mac nun also unter einem schattigen Baum saß und sich „entspannte“, hatte Harm es derweil vorgezogen, noch ein paar Runden zu schwimmen, bevor sie sich auf den Weg zurück zum Hotel machten. Sie setzte das Buch ab und sah in Richtung Meer, um zu sehen, wo er blieb. Doch so sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte ihn nirgends entdecken. Sofort begann ihr Herz, schneller zu schlagen, und auf ihren Handinnenflächen bildeten sich kleine Schweißperlen. ‚Verdammt, wo steckt er nur?’ schoss es ihr durch den Kopf. Augenblicklich stand sie auf und machte ein paar Schritte auf das Wasser zu. Sie hielt sich die Hand über die Augen, um besser sehen zu können. Aber nach wie vor keine Spur von ihm. Ihr Herz raste jetzt vor Angst, und hektisch blickte sie in alle Richtungen, in der Hoffnung, ihn irgendwo entdecken zu können. Vielleicht hatte er ja das Wasser verlassen, während sie in ihr Buch vertieft gewesen war, so dass sie ihn nicht bemerkt hatte. Aber außer ihr war niemand an diesem Strandabschnitt. ‚Gott, lass bitte nicht zu, dass ihm etwas passiert ist….“ Mac standen bereits die Tränen in den Augen. Sie hatte Harm erst vor kurzem fast verloren. Wenn ihm ausgerechnet jetzt etwas zugestoßen sein sollte….

„Harm!“ rief sie seinen Namen so laut sie konnte. Keine Antwort. “Harm!“ rief sie erneut. Doch diesmal war es mehr ein Schrei. Mac hatte das Gefühl, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen werden, alles schien sich um sie herum zu drehen. Da! Etwas hatte sich im Wasser bewegt. Sie blinzelte die Tränen weg, um besser sehen können. Es war tatsächlich ein Körper, der sich im Wasser bewegte. Und er kam immer näher auf sie zu. Dann war er wieder verschwunden, um ein paar Meter weiter wieder aufzutauchen. Spielte ihr Verstand ihr jetzt etwa schon Streiche? Nein! Es war Harm, und er…. tauchte! Dann war er vermutlich die ganze Zeit unter Wasser geschwommen, während sie schon angenommen hatte, er sei möglicherweise ertrunken.

Mac schlug die Hände vors Gesicht und schüttelte mit dem Kopf. ‚Du hysterische Kuh!’ schalt sie sich selbst. Seit Harm’s schwerer Verletzung geriet sie schneller in Panik, als ihr lieb war. So kannte sie sich gar nicht. Ob die Hormone wohl daran schuld waren? Vielleicht. Und wenn nicht, so war es zumindest eine gute Ausrede, wenn sie es mit ihrer Sorge übertrieb. Und ausgerechnet SIE wollte Harm austreiben, sich zu viele Sorgen um Mattie zu machen. Dass sie nicht lachte…. Sie ließ die Hände wieder sinken und erblickte Harm, der jetzt tropfnass durch den Sand auf sie zustapfte. Wie sie ihn so auf sich zukommen sah, wurde die Angst, die sie eben noch verspürt hatte, durch ein anderes Gefühl verdrängt. Sie hatte ausgewachsene Schmetterlinge im Bauch! In Momenten wie diesen schien sie wie zum ersten Mal zu bemerken, wie ungeheuer attraktiv er war. Groß, schlank, muskulös…. die Wassertropfen rannen langsam seinen Körper hinab und blieben zwischen seinen Muskeln hängen wie Tautropfen auf einem Blütenblatt. Dass Harm dieses Jahr bereits 42 wurde, sah man ihm weiß Gott nicht an.
Schnell wischte Mac sich die restlichen Tränen vom Gesicht; ihr Mann sollte nicht merken, dass sie geweint hatte.

„Hey, ich hab ja ein Begrüßungskomitee….“, scherzte Harm, als er sie so dastehen sah. Umso verblüffter war er, als Mac wortlos ihre Arme um ihn schlang und ihn fest an sich drückte.
„Ist alles okay?“ fragte er leise.
„Ja“, kam die Antwort ohne zu zögern. Und in diesem Augenblick war es keine Lüge.


Hotel Atlantis Palace, Hotel-Bar
Playa de Corralejo
Fuerteventura
20:40 Uhr Zulu

„Schatz, bist du sicher, dass wir uns an unserem letzten Abend ausgerechnet eine Karaoke-Veranstaltung antun müssen?“ Harm sah seine Frau missmutig an, als er mit ihr an seiner Seite die Hotel-Bar betrat. Viel lieber hätte er den Abend mit ihr allein irgendwo am Strand verbracht.
„Ach komm schon, das wird bestimmt lustig! Wir setzen uns weiter nach hinten und lästern über die Möchtegern-Carusos, die sich auf der Bühne lächerlich machen.“ Mac lächelte ihn aufmunternd an. Wenn sie ihn so anlächelte, konnte Harm ihr noch nie etwas abschlagen.

Mac trug an diesem Abend das rote Sommerkleid, das sie bereits am Abend ihrer „zweiten“ Verlobung in London getragen hatte, und das Harm so sehr an ihr liebte. Überhaupt standen ihr rote Kleider am besten, wie er fand. Da das Kleid um die Taille herum nicht zu eng geschnitten war, hatte auch der kleine, bereits sichtbare Babybauch Platz darin. Mac hatte anfangs Bedenken gehabt, ob es nicht albern aussah: eine schwangere Frau in solch einem Kleid. Aber Harm hatte ihr die Bedenken - zu seinem Glück - ausreden können. Und seiner Meinung nach hatte er recht behalten: ob schwanger oder nicht, Mac war an diesem Abend definitiv die schönste Frau im Raum.

Während Mac bereits an einem der Tische Platz nahm, ging Harm zum Tresen herüber, um Getränke zu bestellen. Es war schon recht voll in der Bar, und die Stimmung offensichtlich gut. Gerade wurde die nächste mutige Sängerin vom DJ angekündigt, eine gewisse Amanda. Die ersten Takte von „Che Sera“ ertönten, und besagte Amanda betrat die Bühne. Sofort wurde das Klatschen und Gejohle - vornehmlich der männlichen Zuschauer - lauter. Ein Blick genügte Mac, um den Grund dafür festzustellen: Amanda war offenbar eine fleischgewordene Kopie von Barbie! Blonde, toupierte Haare, ein ultrakurzes Kleid und ein Dekollete bis zum Bauchnabel, aus dem die offensichtlich unechten Brüste fast herauspurzelten. Dazu kam die Kriegsbemalung, die sie anscheinend Makeup nannte. Mit dünner Stimme hauchte sie den Text des Liedes. Und was die Melodie betraf, so lag sie mit den Tönen häufig daneben. Trotzdem schien das - zumindest männliche - Publikum begeistert zu sein. Mac musste schmunzeln.

‚Männer’, dachte sie. ‚Halte ihnen ein bisschen nacktes Fleisch vor die Nase, und sie finden alles toll.’ Und wie es aussah, hatte Amanda jemanden gefunden, der ihr ebenfalls gut gefiel. Zumindest sah sie beim Singen auffällig lang in eine bestimmte Richtung und lächelte verführerisch.
Mac drehte sich spaßeshalber ebenfalls in die Richtung, um zu sehen, wer da wohl Gefallen an Barbie gefunden hatte. Was sie sah, gefiel ihr allerdings gar nicht und ihr Schmunzeln schien auf ihrem Gesicht festzufrieren: Barbie flirtete mit Harm! Dieser stand immer noch am überfüllten Tresen und wartete auf die bestellten Getränke. Und er schien tatsächlich ihren Blick zu erwidern, oder bildete sie sich das nur ein? Mac musste sich zusammenreißen, um diesen Barbieklon nicht von der Bühne zu schmeißen. ‚Oh mein Gott’, dachte sie plötzlich erschrocken. ‚Jetzt bin ich auch schon eines dieser eifersüchtigen Weiber, die ich immer so furchtbar fand. Bestimmt will er nur nett sein und lächelt deshalb zurück. Bestimmt…?’ Mit einem Mal war Mac schrecklich unsicher. Immerhin veränderte sich ihr Körper gerade nicht zu ihrem Vorteil. War es ihrem Mann da zu verübeln, wenn er einer anderen Frau mit einer perfekten Figur nachsah? Unbewußt begann sie, an ihrer Unterlippe zu nagen. Endlich war Amanda fertig mit dem, was sie singen nannte und verließ unter dem begeisterten Gejohle des Publikums die Bühne…. um schnurstracks zum Tresen hinüberzumarschieren.

‚Hoffentlich sind die verdammten Drinks bald fertig. Ich hab doch bloß ein Bier und ein Wasser bestellt, was dauert denn da so lange?’ dachte Harm, während er auf die Getränke wartete. In der Zwischenzeit musste er sich das Gejaule dieser Möchtegern-Sängerin anhören, die diesen Klassiker regelrecht vergewaltigte. Zugegebenermaßen hatte sie gewisse „Attribute“, die das Zusehen etwas angenehmer gestalteten. Aber eben nur etwas. In jüngeren Jahren hätte er sie vermutlich sogar attraktiv gefunden, aber zum Glück hatte sich sein Geschmack, was Frauen betraf, in den letzten Jahren grundlegend geändert. Und gegen Mac hatte sie sowie keine Chance. Aber irgendwie schien Amanda ihn dauernd anzustarren. Sie meinte doch ihn, oder? Harm blickte sich um, aber ihr Blick ruhte nach wie vor auf ihm. Und was für Blicke sie ihm zuwarf! ‚Lass das meine Frau nicht sehen’, dachte er grinsend. ‚Die macht Kleinholz aus dir!’ Apropos Frau, Mac sah ihn jetzt auch so merkwürdig an. Sie dachte doch nicht etwa…? Aber zu spät. Amanda hatte ihr Lied beendet und kam zu ihm herüberstolziert.

„Hallo!“ sprach sie Harm lächelnd an. „Wie sieht’s aus, spendierst du einem einsamen Mädchen einen Drink?“ Dabei schenkte sie ihm einen verführerischen Augenaufschlag. Im selben Moment stellte der Barkeeper die bestellten Getränke vor Harm ab. Der schnappte sich beide Gläser und erwiderte: „Sorry, keine Hand mehr frei.“ Und mit diesen Worten ließ er eine verdutzte Amanda stehen und begab sich zu Mac, die ihn skeptisch anblickte.

Harm bemerkte diesen Blick sehr wohl, und bevor sie etwas sagen konnte, kam er ihr zuvor.
„Ich weiß, was du denkst, aber ich kann da wirklich nichts zu. Sie hat mich mit ihren Blicken förmlich ausgezogen, aber das war nicht sehr angenehm, glaub mir.“
„Du ärmster…“, erwiderte Mac trocken. Sie war sich nicht sicher, ob sie wütend auf ihn oder auf sich selbst sein sollte. Schließlich hatte sie gerade gesehen, dass Harm Barbie hatte abblitzen lassen.
„Mac, ich habe wirklich keinerlei Interesse an dieser Frau, das musst du mir glauben. Sie hat schließlich mich angesprochen, nicht umgekehrt…“ Harm war wirklich süß, wie er versuchte, sie zu besänftigen, fand Mac. Wie konnte sie ihm da böse sein? Mac setzte dem ganzen ein Ende, indem sie sich zu ihm beugte und ihn küsste.

„Wofür war der? Ich dachte, du bist sauer?“ fragte Harm überrascht.
„Damit du siehst, dass ich es eben nicht bin… nicht mehr..“, lächelte sie zurück.
„Dafür macht Amanda jetzt aber ein säuerliches Gesicht“, bemerkte Harm schadenfroh, der über Mac’s Schulter hinweg zum Tresen schauen konnte.
„Soll sie doch!“ antwortete Mac grinsend.
„Was meinst du, soll ich es auch mal versuchen?“ fragte Harm grinsend mit einem Blick in Richtung Bühne.
„Du meinst, du willst singen??“ Mac sah ihn entsetzt an. „Eigentlich dachte ich nur daran, mich über ANDERE lustig zu machen….“
„Aha, du glaubst also, ich kann das nicht und mach mich zum Affen, ja?“ Herausfordernd blitzte es in Harm’s Augen, und sein Flyboy-Grinsen erhellte sein Gesicht.
„Das hast du gesagt….“, grinste Mac zurück. „Aber wenn du meinst, dass du das besser kannst als der Barbie-Verschnitt eben, nur zu!“

Harm sprang auf und ging zum DJ herüber, der in der Zwischenzeit Musik vom Band gespielt hatte. Mac schüttelte lächelnd den Kopf. Harm konnte wohl keiner Herausforderung aus dem Weg gehen, und sei es nur so ein dämlicher Karaoke-Abend.

„Okay, und hier haben wir auch schon den nächsten Freiwilligen!“ gab der DJ bekannt, nachdem das aktuelle Lied geendet hatte. „Unser mutiger Gast hört auf den Namen ‚Harm’ und er singt für euch ‚Something stupid’. Viel Spaß!“

Schon waren die ersten Takte des Songs zu hören, und Harm begann zu singen. In seiner Freizeit hatte er ja schon häufig Gitarre gespielt und auch dazu gesungen, aber vor Publikum war es auch für ihn neu. Aber er wollte Mac beweisen, dass er es konnte. Und er wollte ihr gleichzeitig mit diesem Lied eine Liebeserklärung machen.

………
I can see it in your eyes
You still despise the same old lines
You heard the night before
And though it's just a line to you
For me it's true
And never seemed so right before

I practice every day to find some clever
lines to say
To make the meaning come true
But then I think I'll wait until the evening
gets late
And I'm alone with you

The time is right
Your perfume fills my head
The stars get red
And oh the night's so blue
And then I go and spoil it all
By saying something stupid
Like I love you
………

Während er sang, schaute Harm nur zu Mac hinüber. Das restliche Publikum war ihm egal. Mac hörte ihm fasziniert zu und sah ihm dabei ununterbrochen in die Augen. Er sang mit so sanfter Stimme, dass Mac davon eine Gänsehaut bekam. Es war, als wäre niemand außer ihnen anwesend. Sie hörte nur seine Stimme und sah nur seine Augen. Daher saß sie noch immer so versunken da, als das Lied endete und stürmischer Applaus aufbrandete. Verstohlen wischte sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Als Harm zu ihrem Tisch zurückkam, küsste sie ihn zärtlich.

„Ich wusste gar nicht, dass du so romantisch sein kannst…“ Mac hatte noch immer einen Kloß im Hals. Harm legte den Kopf etwas zur Seite und antwortete dann: „Bei der richtigen Frau ist alles möglich.“ Er legte den Arm um sie und drückte sie sanft an sich.


Liebe Grüsse Petra

Kalorien sind kleine Tierchen, die nachts die Kleidung enger nähen.

 
Petra-Andreas
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RE: Alte Freunde - Alte Feinde von Inque

#2 von Petra-Andreas , 14.05.2007 22:59

Kapitel 3


Harm und Mac’s Haus
Kensington and Chelsea, London
20:43 Uhr Zulu

Erschöpft betraten Harm und Mac das Haus und stellten das Gepäck ab. Mattie hüpfte auf einer Krücke aufgeregt wie ein Floh um sie herum und fragte sie in einer Tour über den Urlaub aus. Sie und Petty Officer Sinclair hatten die beiden Urlauber überraschenderweise am Flughafen abgeholt, so dass Mattie ihre Adoptiveltern früher als geplant in die Arme schließen konnte. Mattie hätte es zwar nicht zugegeben, aber die beiden Wochen allein zu Hause waren doch recht langweilig und einsam gewesen. Und so war sie froh, endlich wieder Gesellschaft zu haben. Stolz verkündete sie, dass es natürlich ihre Idee gewesen war, die beiden abzuholen. Und der Petty Officer hatte sich freundlicherweise als Fahrer zur Verfügung gestellt. Insgeheim war es für sie aber auch eine willkommene Gelegenheit gewesen, den jungen Mann wiederzusehen. Sie waren sich bisher ja bereits ein paar Mal begegnet, und Mattie fand Sinclair von Mal zu Mal sympathischer. Und er schien sie auch ein wenig zu mögen, zumindest lächelte er sie immer so süß an, wenn sie sich sahen. Leider gab es da zwei Probleme: erstens wusste sie nicht einmal, ob er bereits eine Freundin hatte. Und zweitens würde es schwierig werden, ihn näher kennenzulernen, ohne dass Harm gleich einen Herzinfarkt bekam. In dieser Hinsicht waren wohl alle Väter gleich.

Als Harm im Bad verschwand, um zu duschen, nutzte Mattie die Gelegenheit, um mit Mac zu sprechen. Sie würde sicherlich mehr Verständnis zeigen. Schließlich war sie auch eine Frau.
Zaghaft klopfte sie an den Rahmen der Schlafzimmertür, um sich bemerkbar zu machen. Mac, die gerade dabei ihre, die Koffer auszupacken, hob den Kopf und sah in ihre Richtung.

„Mattie! Komm doch rein.“ Mac lächelte sie erfreut an.
„Störe ich dich auch nicht?“ Langsam betrat Mattie das Zimmer.
„Ach was, die Wäsche kann auch noch warten. Setz dich doch!“ Mac hatte auf dem Bett Platz genommen und klopfte mit der flachen Hand neben sich. Mattie folgte der Einladung gern. „Hast du etwas auf dem Herzen, Schatz? Du siehst so ernst aus. Nervös wegen dem ersten Schultag morgen?“
„Ach die Schule… ja auch. Aber das kriege ich schon hin. Ich wollte mit dir über etwas anderes sprechen. Aber du musst mir versprechen, dass du Harm nichts darüber sagst. Noch nicht jedenfalls….“
„Aber sicher doch… um was geht es?“ Mac lächelte Mattie aufmunternd zu.
„Weißt du, da ist dieser Typ, den ich irgendwie süß finde. Aber…“

„Du weißt nicht, ob er dich auch mag?“ ergänzte Mac. Mattie nickte. ‚Das ganze kommt mir irgendwie bekannt vor’, dachte Mac. Zu Mattie gewandt: „Ich wusste gar nicht, dass du jemanden kennengelernt hast. Jemand, den wir auch kennen?“
„Ja… und das wäre das nächste Problem. Es ist Ryan….“
„Ryan?“ Mac überlegte, aber ihr fiel niemand mit diesem Namen ein. Als Mattie Mac’s grübelnden Gesichtsausdruck sah, ergänzte sie: „Ryan Sinclair.“
„Oh…der Petty Officer.“ Jetzt verstand Mac das Problem. „Das wird deinem Vater tatsächlich nicht gefallen…“

„Was wird mir nicht gefallen?“ Harm stand im Bademantel in der Tür und sah seine beiden Frauen fragend an. Mac und Mattie zuckten erschrocken zusammen. „Gar nichts“, beeilte Mattie sich zu sagen und wollte das Schlafzimmer wieder verlassen. Aber Harm versperrte ihr den Weg.
„Setz dich bitte wieder“, sagte er ernst. Mattie gehorchte widerwillig.
„Ich habe den Namen ‚Sinclair’ gehört, und dass es mir nicht gefallen wird. Das ist definitiv nicht ‚nichts’! Also was geht hier vor?“

Mattie sah hilfesuchend zu Mac hinüber, die nun aufstand und Harm beschwichtigend eine Hand auf den Arm legte.

„Nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest, Liebling. Wir haben nur gerade ein Gespräch von Frau zu Frau geführt.“
„Und was in Gottes Namen hat PO Sinclair in diesem Gespräch verloren? Ihr wollt mir doch nicht etwa erzählen, dass meine Tochter und der Kerl….?“
„Deine Tochter und der Petty Officer haben nichts getan, wenn du darauf hinaus willst. Bisher ist es nichts weiter als eine heimliche Schwärmerei, was in diesem Alter vollkommen normal ist.“
„Wenn du schon von jemandem schwärmen musst, dann tu mir doch den Gefallen, und such dir jemanden, der nicht unter meinem Kommando arbeitet!“ Harm war sichtlich aufgebracht und stemmte die Fäuste in die Hüften, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen. „Außerdem ist Sinclair viel zu alt für dich!“
„Er ist 23, Harm!“ mischte sich nun auch Mattie ein.
„Ja, und du bist erst 17, junge Dame!“
„Du bist doch auch ein paar Jahre älter als Mac! Und sag jetzt nicht, dass das was anderes ist….“ Mattie’s Augen funkelten wütend. Es war genau der Fall eingetreten, den sie befürchtet hatte: Harm versuchte ihr vorzuschreiben, ihn wenn sie sich verlieben durfte…. wenn überhaupt!

„Okay, es reicht jetzt!“ Mac ging zwischen die beiden Streithähne. „Harm, Mattie hat mir nur gesagt, dass sie ihn niedlich findet, mehr nicht! Und korrigiere mich, aber das ist noch keine Straftat. Außerdem ist noch nicht gesagt, dass es ihm genauso geht. Und selbst wenn, du kannst ihnen nicht verbieten, sich ineinander zu verlieben!“
„Aber…“, wollte Harm protestieren. Doch gegen Mac’s Verteidigung kam er nicht an.
„Kein ‚aber’!“ fuhr sie dazwischen. „Wenn es soweit kommen sollte, und ich betone ‚wenn’, dann kannst du dir immer noch den Kopf darüber zerbrechen, wie du den Freund deiner Tochter behandeln wirst. Aber bis es soweit ist, lass sie einfach in Ruhe, okay?“

Harm seufzte und legte die Stirn in Falten. Er gab es nur ungern zu, aber seine Frau hatte Recht. Er hatte sich gerade wie ein Esel benommen, aber er konnte nicht anders. Er machte sich nun einmal ständig Sorgen, dass irgendjemand Mattie wehtun könnte. Die Kleine hatte schon so viel durchgemacht, dass er versuchte, sie so gut er konnte vor weiteren Katastrophen zu beschützen. Und sei es nur ein gebrochenes Herz.

Abwechselnd sah Harm zu Mac und Mattie hinüber. „Tut mir leid“, sagte er geknickt und sah zu Boden. „Mattie…. Ich will dir keine Vorschriften machen, ich will dich doch nur beschützen…“

Mac sah Mattie an und nickte in Harm’s Richtung. Mattie verstand den Wink und stand auf, um ihren Vater zu umarmen.
„Ich weiß“, sagte sie leise, während sie ihn drückte. „Aber“, sie löste sich wieder von ihm und sah ihn direkt an. „Ich bin kein kleines Kind mehr und mit solchen Dingen muss ich schon alleine klar kommen. Wenn ich Hilfe brauche, werde ich darum bitten. Aber vorher… misch dich bitte nicht ein.“

Harm lächelte seine Tochter an. Nein, sie war tatsächlich kein kleines Mädchen mehr. „Okay“, erwiderte er und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Jetzt solltest du aber langsam ins Bett, du darfst an deinem ersten Schultag doch nicht verschlafen.“
„Bin ja schon weg“, grinste Mattie. „Gute Nacht, ihr zwei!“ Und schon entschwand Mattie in ihr Zimmer.

Mac hatte mit verschränkten Armen vor dem Bett gestanden und sich die letzte Szene still angesehen. Zum Glück hatten sich die beiden Hitzköpfe schnell beruhigt und sich wieder vertragen. In mancher Hinsicht war die Ähnlichkeit in ihrem Verhalten schon fast unheimlich.

„Alles wieder okay?“ fragte sie nun ihren Mann, der einfach nur dastand und vor sich hin starrte. Harm sah auf und zeigte den Anflug seines Flyboy-Lächelns.
„Abgesehen davon, dass ich nun weiß, auf wessen Seite du stehst, ja!“ Nun grinste er über beide Ohren.
„Ich stehe auf niemandes Seite, ich habe nur für eine faire Verhandlung gesorgt.“
„Faire Verhandlung, so so…. Immer noch die toughe Anwältin, wie?“ Er nahm Mac in den Arm und drückte sie an sich. „Aber dank dir ist es zu keiner Verurteilung gekommen. Danke, dass du für sie da bist. Das bedeutet mir viel.“ Er sah ihr jetzt direkt in die Augen, und Mac musste bei seinem Blick schlucken. Wenn er sie so ansah, mit dieser Mischung aus Liebe und Verlangen, dann bekam sie regelmäßig weiche Knie.

„Ich würde sagen, für uns ist es auch Zeit fürs Bett, Sailor. Du möchtest doch an deinem ersten Arbeitstag nach dem Urlaub nicht zu spät kommen?“ erwiderte Mac mit unschuldigem Gesicht. Doch in ihren Augen blitzte es ganz und gar nicht unschuldig.


U.S. Strafvollzugsanstalt
Fort Leavenworth, Kansas
21:34 Uhr CST (03:34 Uhr Zulu)

Corporal Michael O’Neill saß gelangweilt hinter seinem Schreibtisch. Eigentlich hätte er die Überwachungsmonitore vor sich im Auge behalten müssen, doch seine Aufmerksamkeit galt momentan mehr der aktuellen Ausgabe des Playboy-Magazins. Im Prinzip war es zwar nicht erlaubt, was er tat, schließlich war er im Dienst. Aber andererseits war während der Nachtschicht nie etwas los, denn auch die bösen Jungs, die hier verwahrt wurden, mussten irgendwann schlafen.

Plötzlich wurde die Stille durch das Geschrei eines Gefangenen unterbrochen, und Corporal O’Neill fiel vor Schreck fast die Zeitschrift aus der Hand. Hektisch starrte er auf die Monitore, ob etwas zu erkennen war. Einer der Gefangenen schien in die Überwachungskamera zu winken, um auf sich aufmerksam zu machen.

„Verdammt, Johnson, was willst du denn?“ knurrte O’Neill wütend, ehe er sich sein Funkgerät schnappte und sich auf den Weg machte, um nach dem rechten zu sehen.

Als O’Neill die Gefangenen ereichte, deutete Private Johnson, ein großer dunkelhäutiger Mann, bereits aufgeregt auf die gegenüberliegende Zelle.

„E-er hat plötzlich Schaum vor’m Mund gehabt, und d-dann ist er umgekippt und hat nur noch gezuckt…“, stammelte der ehemalige Army-Soldat. Corporal O’Neill schaute in die Zelle des betreffenden Mannes, der tatsächlich bewusstlos auf seiner Pritsche zu liegen schien. Weißer Schaum quoll ihm zwischen den Lippen hervor und lief dessen Kinn hinunter.
„Shit!“ entfuhr es O’Neill. Aber er durfte jetzt nicht in Panik verfallen. Ein toter Gefangener war das letzte, was das Militärgefängnis gebrauchen konnte.

Er aktivierte sein Funkgerät. „Hier Corporal O’Neill, benötige Sanitäter in Block 5!“
„Hier Krankenstation, um was geht es?“
„Gefangener liegt bewusstlos in seiner Zelle, hatte anscheinend einen Krampfanfall.“
„Irgendwelche Lebenszeichen?“
„Moment, ich sehe nach….“ O’Neill öffnete die Zellentür und näherte sich langsam dem Gefangenen. Er war nervös, und seine Hände schwitzten. Er hatte schon häufiger von Verbrechern gehört, die Krankheiten vortäuschten, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Daher musste er vorsichtig sein. O’Neill fühlte den Puls am Hals des leblosen Mannes; er war schwach, aber vorhanden. O’Neill atmete beruhigt aus. Gerade wollte er das Funkgerät wieder betätigen, um den aktuellen Status zu melden, als plötzlich zwei kräftige Hände seinen Hals packten und zudrückten. O’Neill ruderte mit den Armen, wollte den Angreifer abschütteln, aber es gelang ihm nicht. Seine Kräfte schwanden, und schließlich fiel er regungslos zu Boden.

Der vermeintlich kranke schnappte sich das Funkgerät.
„Hier O’Neill. Falscher Alarm, da wollte mich nur jemand erschrecken“, sagte er mit verstellter Stimme durch.
„Verstanden“, kam die Antwort von der Krankenstation.

„Was man mit ein paar chemischen Mitteln nicht alles vortäuschen kann“, murmelte der nun freie Mann mit einem gehässigen Grinsen in Richtung O’Neill, während er ihm die Zellenschlüssel abnahm und die Uniform auszog.

Private Johnson, der das Treiben bisher stumm beobachtet hatte, meldete sich nun auch zu Wort.
„Hey Mann, nimm mich mit!“
„Vergiss es, ich arbeite alleine!“
„Aber ich kann dir bestimmt nützlich sein, ich mein, du hast doch bestimmt irgendwas vor? Man bricht doch nicht einfach so aus Leavenworth aus?“

Der Angesprochene dachte einen Augenblick nach. Vielleicht hatte er tatsächlich noch Verwendung für diesen Trottel. Und wenn nicht, konnte er ihn immer noch aus dem Weg räumen.
„Na schön, du kommst mit. Aber du machst gefälligst, was ich dir sage, verstanden?“
„Verstanden, du bist der Boss!“

In der Uniform von Corporal O’Neill verließ Clark Palmer zusammen mit Private Johnson unbehelligt das Gefängnis, um sich endgültig an dem Mann zu rächen, dem er die letzten Jahre in Haft zu verdanken hatte: Harmon Rabb!


Kapitel 4


Naval Legal Service Office
7 North Audley, London
08:30 Uhr Zulu

Gut gelaunt und vor sich hin pfeifend betrat Harm das Navy-Gebäude und begab sich schnurstracks zu seinem Büro. Seine Laune änderte sich jedoch schlagartig, als er Petty Officer Ryan Sinclair, seinen Assistenten, sah. Dieser saß wie üblich an seinem Schreibtisch, der sich dummerweise genau am Eingang zu Harm's Büro befand. Mit starrem Blick wollte Harm an Sinclair vorbei in seinem Büro verschwinden, aber er hatte nicht mit der Aufmerksamkeit seines Assistenten gerechnet.

„Guten Morgen, Sir!“ begrüßte PO Sinclair seinen Vorgesetzten fröhlich und stand schnell von seinem Stuhl auf, um strammzustehen.
„Guten Morgen, Petty Officer. Rühren“, knurrte Harm Nach dem gestrigen Gespräch mit Mattie hatte er eigentlich keine große Lust, sich mit dem jungen Mann zu unterhalten, auch wenn er sich bewusst war, dass dieser nichts dafür konnte.
„Wie war ihr Urlaub, Sir?“
„Gut, danke der Nachfrage.“ Harm verschwand in seinem Büro und schloss die Tür mit einem lauten Knall. Petty Officer Sinclair schaute ihm verdutzt nach. ‚Wohl mit dem falschen Bein aufgestanden', dachte er. ‚Dann frage ich ihn heute wohl besser nicht um Erlaubnis, um mit Mathilda auszugehen.'


NCIS Hauptquartier
716 Sicard Street S.E., Washington Navy Yard, D.C.
09:13 Uhr EST (14:13 Uhr Zulu)

„Herein!“ Executive Assistant Director Harold Cunningham sah von seinem Schreibtisch auf, um seinen Besucher in Augenschein zu nehmen. Es war eine junge Frau in blauer Navy-Uniform.

„Sie wollten mich sprechen, Sir?“
„Ja. Nehmen Sie bitte Platz, Commander.“ Der weibliche Offizier setzte sich auf den angebotenen Stuhl.
„Um was geht es, Sir?“
„Commander Pike, Sie sind ja noch nicht sehr lange bei uns und daher bisher erst im Innendienst eingesetzt gewesen. Aber ich habe hier einen speziellen Auftrag für Sie.“ Director Cunningham reichte ihr eine dicke Akte, die Cmdr. Caitlin Pike sogleich öffnete.
„Clark Palmer? Was habe ich mit der Sache zu tun?“
„Nun, Commander, Palmer ist gestern Abend zusammen mit einem Mitgefangenen aus Fort Leavenworth geflohen und hat dabei einen Wärter getötet. Wir gehen davon aus, dass er es auf eine bestimmte Person abgesehen hat. Wir haben das hier in seiner Zelle gefunden.“ Cunningham reichte Cmdr. Pike eine in Folie eingeschweißte Zeitung. Auf der Titelseite war ein Artikel mit einem Farbfoto vom amerikanischen Botschafter in London, wie er einem Navy-Offizier die Hand schüttelte. „Der Offizier auf dem Bild“, fort Cunningham fort, „ist Captain….“
„… Harmon Rabb“, ergänzte Cmdr. Pike.
„Sie kennen ihn?“

„Wir haben zusammen bei JAG in Falls Church gearbeitet.“ ‚Er hat mit gar nicht erzählt, dass er nach London versetzt und befördert wurde', dachte Kate enttäuscht, während sie den Artikel kurz überflog. Sie hatten hin und wieder noch lose Kontakt gehabt, seit sie zuletzt in Washington gewesen war. Aber seit ein paar Monaten hatte er sich nicht mehr gemeldet, und sie hatte ihn auch nicht erreicht. Jetzt ahnte sie, warum.

„Palmer hat in der Vergangenheit schon mehrmals versucht, Rabb umzubringen. Es scheint eine Art persönliche Fehde zwischen ihnen zu bestehen. Daher ist Rabb bisher unser einziger Anhaltspunkt auf der Suche nach Palmer.“
„Was ist meine Aufgabe dabei, Sir?“ Kate sah ihren Vorgesetzten wieder an.
„Sie werden verdeckt bei JAG in London ermitteln, quasi als unser Spion. Ich möchte, dass Sie in der Nähe des Captains bleiben und Augen und Ohren offen halten. Sie werden in ständigem Kontakt mit unserer Außenstelle in London bleiben und uns sofort informieren, wenn sie irgendetwas Ungewöhnliches entdecken. Palmer könnte in irgendeiner Weise versuchen, mit Rabb Kontakt aufzunehmen, um ihn über seine Pläne in Kenntnis zu setzen. Und wir müssen bereit sein, wenn es soweit ist.“

„Warum sollte er das tun, wenn er sich am Captain rächen will?“
„Weil Palmer schon immer sehr überheblich war, was seine Vorgehensweise angeht. Es verleiht ihm wohl den nötigen Antrieb, wenn seine Gegner wissen, was sie erwarten, und er sie trotzdem besiegt. Nur bei Rabb ist es ihm bisher nicht gelungen. Es ist immens wichtig, Commander, dass Sie sich absolut diskret verhalten. Es darf niemand etwas anderes von Ihnen annehmen, als dass Sie JAG-Anwältin sind. Wenn wir Rabb zu offensichtlich bewachen, könnte es Palmer abschrecken, in Aktion zu treten. Natürlich werden wir außerhalb Ihrer Arbeitszeit weitere Undercover-Agenten einsetzen, aber keiner von ihnen wird so dicht an den Captain herankommen, wie Sie. Und wenn sie sich bereits kennen, umso besser. Dann wird Rabb keinen Verdacht schöpfen. Der Kommandant, Admiral Wilson, ist als einziger eingeweiht in unsere Operation. Er wird Sie, soweit es nötig sein wird, unterstützen. Haben Sie noch Fragen, Commander?“
„Nein, Sir.“
„Gut, Ihr Flug nach London geht in zwei Stunden ab Andrews. Hier sind Ihre Kontaktadressen in London. Passen Sie auf sich auf. Palmer ist ein gefährlicher Psychopath.“
„Ja, Sir.“


Naval Legal Service Office
7 North Audley, London
18:32 Uhr Zulu

„Hey, Sailor! Willst du heute gar nicht Feierabend machen?“ machte sich Mac bemerkbar. Sie hatte schon eine Weile still in Harm's Bürotür gestanden und ihn beobachtet. Harm hatte den obersten Knopf seines Hemdes geöffnet und die Krawatte hing nur noch locker um seinen Hals. Er war ja so niedlich, wenn er so gedankenversunken dasaß, lächelte Mac innerlich. Harm war so sehr in eine Akte vertieft gewesen, dass er die Anwesenheit seiner Frau gar nicht registriert hatte. Nun aber zuckte er zusammen und sah sie erschrocken an.

„Mac, seit wann stehst du schon da?“ fragte er überrascht und stand auf, um sie zu begrüßen.
„Seit exakt 7 Minuten und 46 Sekunden. Hi…“ Sie küsste ihren Mann sanft. „Stressigen Tag gehabt?“
„Eigentlich nicht….. ich hab nur den halben Tag damit verbracht, PO Sinclair aus dem Weg zu gehen, damit ich ihn nicht versehentlich erwürge.“ Harm grinste sie schief an, seufzte dann aber: „Hätte nicht gedacht, dass es so schwer werden würde, wenn Mattie in das Alter kommt… in dem sie anfängt, sich für Jungs zu interessieren.“
„Sie bleiben eben nicht 15. Und wenn wir noch ein Mädchen bekommen sollten, dann steht dir das ganze noch mal bevor!“ Mac konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

„Machst du dir denn keine Sorgen? Ich meine, wegen Liebeskummer…. Oder dass… etwas … passieren könnte?“
„Meinst du mit ETWAS das hier?“ Mac zeigte mit ihrem Zeigefinger auf ihren Bauch. Harm nickte. „Natürlich mache ich mir Gedanken, aber ich vertraue Mattie auch. Wir hatten schon das spezielle Gespräch gehabt, weißt du?“
„Ihr habt über… Sex geredet??“ Harm schien bei diesem Gedanken regelrecht zu erstarren.
„Ja, Harm! Mit wem hätte sie denn sonst reden sollen, mit dir vielleicht?“ Mac verdrehte die Augen. „Und außerdem ist es mir lieber, sie ist richtig aufgeklärt, so lange sie noch keinen Sex hat, als wenn sie es tut und dabei unvorsichtig ist, weil sie es nicht besser wusste. Aber ich musste ihr ohnehin nicht viel dazu erklären…..“

Harm schüttelte den Kopf. „Also wirklich beruhigt bin ich jetzt aber nicht, im Gegenteil…“
„Ach komm schon. Es wird so oder so irgendwann passieren, ob du dir nun den Kopf darüber zerbrichst oder nicht. Und verhindern kannst du es sowieso nicht.“
„Nicht? Ich könnte sie ja in ihr Zimmer einsperren bis sie 25 ist!“ Harm schien sich in sein Schicksal als Vater gefügt zu haben, denn er zeigte den Ansatz eines Lächelns.
„Ha ha, sehr witzig. Und jetzt lass uns endlich nach Hause fahren, wir haben Hunger!“
„Wir?“ fragte Harm irritiert.
„Ähem..“. Mac räusperte sich und zeigte erneut auf ihren Bauch, diesmal mit beiden Händen.
„Das wird wohl jetzt deine Standardantwort auf alles, wie?“ fragte Harm amüsiert.
„Funktioniert doch…“, grinste Mac zurück. „Und jetzt komm endlich. Mattie muss uns doch auch noch von ihrem ersten Schultag erzählen.“ Ungeduldig zog sie ihren Mann aus dessen Büro. Gegen eine hungrige Mac war es schon schwer anzukommen. Aber gegen eine hungrige und schwangere Mac hatte Harm nicht den Hauch einer Chance.


Harm und Mac's Haus
Kensington and Chelsea, London
19:30 Uhr Zulu

Als Mr und Mrs Rabb ihr Haus betraten, wehte ihnen der Duft von frischer Pizza entgegen.
„Hey, ihr zwei Rumtreiber! Habt ihr den Weg nach Hause endlich gefunden?“ Mattie stand mit einer Küchenschürze um die Taille in der Küchentür und versuchte, ein möglichst ernstes Gesicht zu machen, was ihr aber nicht so recht gelingen wollte.
„Entschuldige die Verspätung, Schatz, aber dein Vater hatte heute… viel zu tun“, antwortete Mac als Erste.

„Und Mac war so lieb und hat auch mich gewartet“, ergänzte Harm.
„Ja, schon klar. Was macht es auch schon, dass eure einzige Tochter heute zum ersten Mal die neue Schule besucht hat und sich sogar schon ums Abendessen gekümmert hat. Da steht man stundenlang in der Küche, und dann könnte ihr noch nicht mal anrufen, um Bescheid zu sagen, dass es später wird!“ Mattie sah jetzt wirklich sauer aus, was bei Harm und Mac für ein schlechtes Gewissen sorgte. Geknickt sahen sie einander an.
„Ja du hast Recht. Wir hätten anrufen sollen. Kommt nicht wieder vor, versprochen.“ Harm gab Mattie einen Versöhnungskuss auf die Stirn und ging hinauf ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen.

„Ist er noch sauer auf mich?“ fragte Mattie Mac, die auf dem Sofa Platz genommen hatte und sich die geschwollenen Knöchel rieb.
„Nein.“ Mac schüttelte den Kopf. „Es hat zwar eine Weile gedauert, aber jetzt hat er sich beruhigt. Hoffe ich jedenfalls…“
„Ich habe mich noch gar nicht dafür bedankt, dass du mir gestern geholfen hast. Danke!“ Mattie trat an Mac heran und umarmte sie.
„Das war doch selbstverständlich. Wir Frauen müssen doch zusammenhalten.“ Mac zwinkerte ihr grinsend zu. „Aber ich kann ihn auch verstehen. Bei dem Gedanken, dass sich ein Junge für dich interessieren könnte, erinnert er sich wahrscheinlich daran, wie er früher gewesen ist. An seiner Stelle hätte ich da wahrscheinlich auch Angst.“ Beide mussten lachen.

In diesem Moment kam Harm die Treppe herunter, der die Uniform gegen Jeans und ein helles Hemd getauscht hatte.
„Na, was gibt es denn hier zu lachen?“ fragte er neugierig.
„Nichts“, antworteten beide gleichzeitig und fingen wieder an zu lachen.
„Okay, ich geh dann mal Teller holen“, entschied Harm und ging in die Küche. Auf dem Weg dorthin hörte er noch, wie Mattie zu Mac sagte: „Du bist echt eine tolle Mom!“ Er drehte sich kurz um und sah, wie seine Frau und seine Tochter sicht umarmten. Mac, die ihn seine Richtung blickte, hatte Tränen in den Augen und strahlte ihn an. Bei diesem Anblick zeigte sich auch auf Harm's Gesicht ein großes Lächeln.


Kapitel 5


Harm und Mac's Haus
Kensington and Chelsea, London
07:50 Uhr Zulu

An der Tür des Haushaltes der Familie Rabb klingelte es. Harm, der gerade seine Aktentasche nach einem Dokument durchsuchte, war als erstes an der Tür. ‚Wer kann denn das um diese Zeit sein?' fragte er sich verwundert, als er die Tür öffnete. Ein junges Mädchen mit kinnlangen, dunklen Haaren, etwa in Mattie's Alter, stand im Eingang. Etwas unsicher schaute sie zu Harm hoch, sie schien durch seine Uniform irritiert zu sein.
„Guten Morgen, Mister Rabb“, ergriff sie dann doch das Wort. „Ich bin Cassie. Ich wollte Mattie zur Schule abholen.“
„Hallo, komm doch rein.“ Harm machte einen Schritt zur Seite und ließ das Mädchen eintreten. Dann rief er nach Mattie. „Komme gleich!“ kam die Antwort von oben.
„Ein schönes Haus haben Sie, Sir.“
„Danke, Cassie. Wohnst du hier in der Nähe?“
„Ja, nur ein paar Häuser weiter.“

Eben kam auch Mac die Treppe hinunter. „Schatz, wir müssen langsam los“, sagte sie im Gehen. Dann bemerkte sie ihren morgendlichen Gast.
„Schatz, das ist Cassie. Sie geht mit Mattie zusammen zur Schule“, stellte Harm das Mädchen seiner Frau vor. Brav reichte Cassie ihr die Hand.
„Guten Morgen, Mrs Rabb.“
„Hallo, schön dich kennenzulernen. Ich glaube, Mattie hat gestern von dir gesprochen. Ist Cassie die Kurzform von Cassandra?“
„Ja, Ma'am. Aber bitte nennen Sie mich nur Cassie.“

Endlich kam auch Mattie die Treppe hinunter. Mittlerweile war sie nur noch auf eine Krücke angewiesen, wodurch sie doch schon wieder ziemlich mobil war.

„Hi Cassie! Ich unterbreche euren Smalltalk ja nur ungern, aber wir müssen los.“
„Das gleiche gilt auch für uns. Also raus mit euch“, erwiderte Harm.
„Wiedersehen, Harm. Ciao, Mac. Bis heute Abend!“ verabschiedete sich Mattie von ihren Eltern, die in Harm's Dienstwagen stiegen.
„Viel Spaß in der Schule, ihr beiden!“

Das Fahrzeug mit Harm und Mac rollte langsam aus der Einfahrt und bog auf die Straße ab, während Mattie mit ihrer Schulfreundin in Richtung Haltestelle ging, um auf den Bus zu warten.

„Sagtest du nicht, dein Dad wäre Anwalt?“ fragte Cassie unterwegs.
„Ja, wieso?“
„Na, weil er eine Uniform trägt.“
„Ach so, hab wohl vergessen zu erwähnen, dass er Anwalt bei der Navy ist“, erwiderte Mattie lächelnd.
„Kann ich dich noch was fragen?“
„Klar, schieß los!“
„Warum nennst du deine Eltern beim Vornamen. Ist das in den USA so üblich?“
„Nein, das liegt daran, dass sie nicht meine richtigen Eltern sind, sondern meine Adoptiveltern. Und da wir erst seit ein paar Wochen eine richtige Familie sind, ist das halt etwas komisch, Mom und Dad zu ihnen zu sagen.“

Cassie schaute Mattie mit großen Augen an. „Wow, du scheinst ja ein bewegtes Leben zu haben.“
„Wenn du wüsstest“, grinste Mattie. „Ich glaube, wir werden noch eine Menge Gesprächsstoff haben.“


Naval Legal Service Office
7 North Audley, London
Admiral Wilson's Büro
11:15 Uhr Zulu

Harm saß im Büro seines CO und besprach gerade einige Punkte des Etatplans für das kommende Jahr. Es waren zwar noch ein paar Monate bis dahin, aber je eher sie damit begannen, desto eher hätten sie das leidige Thema vom Tisch. Ihr Gespräch wurde durch das akustische Signal der Gegensprechanlage auf dem Schreibtisch des Admirals unterbrochen.

„Was gibt's, Corporal?“ brummte der Admiral in das Mikrophon.
„Commander Pike ist eingetroffen, Sir“, meldete sich Corporal Janet Morrow, die Assistentin des Admirals.
„Na endlich, schicken Sie sie rein!“

Beim Namen ‚Pike' war Harm hellhörig geworden, und er zog wie so üblich, wenn ihn etwas irritierte, eine Augenbraue hoch. Die Tür öffnete sich und tatsächlich: es war Kate Pike, seine ehemalige Partnerin, die das Büro betrat. Beim Hereinkommen sah sie Harm kurz an, der bei ihrem Eintreten von seinem Stuhl aufgestanden war, konzentrierte sich aber dann darauf, vor dem Schreibtisch des Admirals Haltung anzunehmen.

„Melde mich zum Dienst, Sir!“
„Sie sind reichlich spät dran, Commander. Rühren!“ Wilson reagierte sichtlich verärgert auf die Verspätung.
„Verzeihung Sir, ein Unfall blockierte die Umgehungsstrasse. Die Stelle war 30 Minuten gesperrt. Wird nicht wieder vorkommen, Sir.“
„Das will ich hoffen. Commander, das ist Captain Rabb.“ Harm reichte Kate die Hand.
„Schön, Sie wiederzusehen, Commander.“ Harm lächelte sie an, und er schien sich tatsächlich zu freuen, sie zu sehen.
„Freut mich ebenfalls, Captain. Ist schon eine Weile her.“ Kate lächelte zurück. Sie wünschte nur, ihr Wiedersehen würde unter anderen Umständen stattfinden.
„Sie beide kennen sich?“ fragte Wilson erstaunt.
„Ja, Sir. Wir haben bei JAG bereits zusammengearbeitet. Dafür haben Sie mir verschwiegen, dass wir Verstärkung bekommen, Sir.“
„Das war eine kurzfristige Entscheidung. Die bisherige Dienststelle des Commanders wurde aufgelöst und nun verstärkt sie uns hier, bis sich herausstellt, ob sie bleibt oder woandershin versetzt wird.“
Dem Admiral missfiel es, seinen Stellvertreter anlügen zu müssen, doch er war vom NCIS zum Stillschweigen verdonnert worden, um deren Pläne nicht zu gefährden. Also spielte er notgedrungen deren Spiel mit.

„Da Sie sich bereits kennen, macht es Ihnen sicherlich nichts aus, dem Commander soweit alles zu zeigen und sie mit allen Vorgängen vertraut zu machen, Captain. Vorerst bekommt Cmdr. Pike den Schreibtisch von Major Donaghue, bis dieser aus dem Urlaub zurück ist. Das wäre alles. Wegtreten.“
„Aye, aye, Sir!“

Harm und Kate verließen gemeinsam das Büro ihres Vorgesetzten, und Harm begann mit seiner Führung durch die Räumlichkeiten. Allerdings beschränkte er sich dabei nur auf dienstliche Erklärungen, kein persönliches Wort kam über seine Lippen. Kate bedauerte schon ihren Entschluss, sich auf diese Aktion eingelassen zu haben, aber sie durfte sich nicht von Gefühlen beeinflussen lassen. Schließlich waren sie ‚nur' Freunde gewesen, und selbst das schien eine Ewigkeit her zu sein. Zum Schluss betraten sie Harm's Büro, da er dort ein paar Akten lagerte, die er ihr noch zeigen wollte. Nachdem er die Tür hinter ihnen beiden geschlossen hatte, sprach sie ihn an.
„Du hast mir von dem ganzen hier gar nichts erzählt. Sollte wohl eine Überraschung sein. Nun, die ist dir gelungen.“ Ihr Tonfall glitt mehr ins sarkastische ab, als sie es eigentlich beabsichtigt hatte.
„Kate…“, versuchte Harm sie zu beschwichtigen. Sie hatte schon Recht, dass er den Kontakt hatte schleifen lassen. Aber er hatte nun ein anderes Leben, von dem er ihr noch rein gar nichts erzählt hatte. Würde sie sich für ihn freuen? Oder ihn eher für verrückt erklären?
„Nein, schon gut, du bist mir selbstverständlich keine Erklärung schuldig. Ich hatte nur gedacht, dass unsere Freundschaft dir mehr bedeuten würde, nachdem du mich bei unserem letzten Treffen überreden wolltest, in Washington zu bleiben.“ Verdammt, warum reagierte sie in seiner Gegenwart nur so dermaßen emotional. Sie waren schließlich erwachsene Menschen, die sich in keinster Weise zu irgendetwas verpflichtet waren.

„Du hast Recht, es tut mir leid. Die einzige Entschuldigung, die ich habe, ist, dass ich wahnsinnig viel zu tun habe, seit ich hier in London bin. Kannst du mir verzeihen? Ich freue mich wirklich, wieder mit dir zusammenzuarbeiten.“ Harm setzte sein Flyboy-Lächeln auf, und dem hatte Kate nichts entgegenzusetzen. Damit hatte er sie schon einmal herumgekriegt, und er würde es wohl jederzeit auch wieder schaffen, wie sie sich gerade eingestehen musste.
„Okay, Entschuldigung angenommen.“ Kate versuchte ein Lächeln. Sie war schließlich nicht hier, um mit ihm zu streiten, sondern um auf ihn aufzupassen. Kate wechselte das Thema. „Bist du eigentlich noch mit dieser Renee zusammen? Ist sie auch hier?“ ‚Du bist ja kein bisschen neugierig', schüttelte sie innerlich den Kopf über sich selbst.
„Nein, mit Renee ist es schon lange vorbei….“

In dem Moment meldete sich PO Sinclair über die Gegensprechanlage. „Sir, Ihre Frau ist auf Leitung zwei.“
„Danke. Stellen Sie sie durch.“

Kate's Augen weiteten sich, als hätte sie gerade einen Geist gesehen, und sie musste sich zusammenreißen, damit ihr Mund nicht sperrangelweit offen stand. Hatte sie gerade das Wort „Frau“ in Verbindung mit Harmon Rabb jr. gehört??

„Hi Schatz… Mittagessen klingt gut… ja okay, bis gleich…. ich dich auch.“ Lächelnd legte er den Hörer wieder auf und sah in Kate's erwatungsvolles Gesicht.
„Möchtest du mir vielleicht etwas erzählen?“ fragte sie.

Harm kratzte sich am Hinterkopf, jetzt wurde die Situation doch etwas unangenehm für ihn. Nachdem er Mac zuliebe darauf verzichtet hatte, seine ehemaligen Partnerinnen zur Hochzeit einzuladen, hatte er es leider auch versäumt, sie zumindest von diesem für ihn so wichtigen Ereignis in Kenntnis zu setzen.

„Es stimmt, ich bin verheiratet. Und zwar seit zwei Monaten.“ Harm wartete Kate's Reaktion ab. Ihr Gesicht war regungslos, fast wie erstarrt. Dann endlich hatte sie sich wieder gefangen, und sie setzte ein Lächeln auf.
„Wow, was für Neuigkeiten. Du und heiraten, wer hätte das gedacht. Meinen Glückwunsch. Bin ja schon gespannt darauf, die glückliche kennenzulernen. Du stellst sie mir doch vor, oder?“ ‚…diejenige, die geschafft hat, was ich nicht konnte. Dich zu halten….', führte Kate in Gedanken ihren Satz weiter. Sie war fassungslos, aber äußerlich durfte sie sich nichts anmerken lassen. Er durfte nie erfahren, wie viel er ihr immer noch bedeutete, nach all diesen Jahren…

„Ja, du wirst sie gleich treffen, sie holt mich zum Essen ab. Was ist mit dir? Hast du jemand festes?“
„Nein, hier und da eine kurze Affäre, aber der richtige war noch nicht dabei. Außerdem weißt du selbst, wie schwierig es ist, in unserem Job eine feste Bindung einzugehen. Ständig auf Achse durch die Weltgeschichte… das macht kein Mann gern mit. Oder eine Frau… Deine muss ja sehr verständnisvoll sein, wenn dein Beruf sie nicht stört?“
„Naja, weißt du, sie kommt quasi aus der selben Branche“, redete Harm um den heißen Brei herum. Er wusste nicht warum, aber er konnte ihr gegenüber nicht zugeben, dass sie damals Recht gehabt hatte, was ihn und Mac anging.

„Ich muss gestehen, dass ich etwas fassungslos bin. Du und verheiratet? Versteh mich nicht falsch, Harm, aber um ehrlich zu sein, hätte ich das von jemandem wie dir am allerwenigstens erwartet.“
„Was meinst du mit „jemandem wie mir“? Hältst du mich für nicht fähig, eine Beziehung zu führen?“ Harm sah Kate mit einem leicht säuerlichen Gesichtsausdruck an. Offenbar hatte sie einen wunden Punkt bei ihm getroffen.
„Ich will es einmal so ausdrücken: du hast früher nie den Eindruck auf mich gemacht, dass du es länger mit ein und derselben Frau aushältst. Und wenn ich an deinen früheren Beziehungen zurückdenke, mich eingeschlossen, dann musst du entschuldigen, wenn ich sehr überrascht bin. Entschuldige, aber früher hätte im Lexikon neben den Begriff „eingefleischter Junggeselle“ dein Bild gehört.“ Kate grinste ihn jetzt frech an.
„Ganz unrecht hast du da vielleicht nicht“, gab Harm zu. „Aber ist es so schwer zu glauben, dass ich mich geändert habe? Ich habe jetzt die Richtige gefunden, Kate. Und mit dieser Frau will ich den Rest meines Lebens verbringen. Schätze, ich habe nur auf sie gewartet, um mir klar darüber zu werden, wie sehr ich mir eine Familie wünsche.“

Harm's Worte trafen Kate mehr, als sie es für möglich gehalten hatte. Genauso gut hätte ihr jemand auch ein Messer ins Herz rammen und es ein paar Mal darin umdrehen können. Aber sie war geübt darin, ihre wahren Gefühle vor anderen zu verbergen, und so ließ sie sich auch jetzt nichts anmerken.

Ohne Vorwarnung öffnete sich die Bürotür und Mac kam hineingeschneit.

„Oh, Entschuldigung, ich wollte nicht stören“, sagte sie schnell und wollte schon wieder gehen, als sie bemerkte, wer da mit Harm ins Gespräch vertieft war. „Kate, was für eine Überraschung. Harm hat gar nicht erzählt, dass Sie in London sind.“
„Das konnte er auch nicht, ich bin erst seit heute Morgen da. Aber die Überraschung kann ich zurückgeben, Mac. Er hat bisher auch nicht erwähnt, dass Sie hier sind. Und das auch noch in zivil. Was habe ich verpasst?“

Kate sah abwechselnd zu Mac und dann zu Harm hinüber, während Mac fragend Harm ansah. Harm machte einen Schritt auf Mac zu und legte seinen Arm um ihre Taille.
„Du wolltest doch meine Frau kennenlernen, Kate. Nun, hier ist sie.“


Liebe Grüsse Petra

Kalorien sind kleine Tierchen, die nachts die Kleidung enger nähen.

 
Petra-Andreas
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RE: Alte Freunde - Alte Feinde von Inque

#3 von Petra-Andreas , 14.05.2007 23:00

Kapitel 6


Naval Legal Service Office
7 North Audley, London
Harm's Büro
12:43 Uhr Zulu

Kate war sprachlos. Bei ihrem letzten Wiedersehen hatte sie zwar die Spannung zwischen den beiden bemerkt, aber dass Harmon Rabb und Sarah MacKenzie ein Paar würden, hätte selbst sie nicht voraussehen können.

„Meinen Glückwunsch, Mac“, erwiderte Kate betont freundlich, als sie ihre Sprache wiedergefunden hatte, und mit einem Blick auf Mac's runden Bauch: „Und wie ich sehe, wart ihr beiden auch schon fleißig.“
Harm sah seine Frau an und lächelte zärtlich. „Es war zwar nicht so schnell geplant, aber es macht das ganze perfekt.“
„Wir wollten zum Mittagessen gehen“, warf Mac ein. „Möchten Sie vielleicht mitkommen, Kate? Ich bin sicher, es gibt viel zu erzählen.“

Eigentlich hätte Kate ‚ja' sagen müssen, um an Harm dranzubleiben. Aber das waren dann doch ein paar Überraschungen zu viel auf einmal. Und ein turtelndes Pärchen vor der Nase war das letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte.

„Nein, danke. Ein anderes Mal gern, aber ich bleibe doch lieber hier und…“. Kate schnappte sich ein paar Akten von Harm's Schreibtisch. „werde die hier studieren.“
„Na gut, wie du meinst. Dann bis später.“ Harm nahm Mac an der Hand und verließ mit ihr sein Büro.

Kate schaute den beiden noch eine Weile nach, ehe sie die Bürotür hinter sich schloss und an dem ihr zugewiesenen Schreibtisch Platz nahm. Lange Zeit starrte sie die vor ihr liegenden Akten nur an. Ständig hatte sie Harm's Gesicht vor Augen, seinen Ausdruck als er von Mac sprach, dieses Leuchten in seinen Augen. Zum wiederholten Mal an diesem Tag musste sie an ihre kurze Affäre mit ihm zurückdenken. Und sie musste zu ihrem Bedauern feststellen, dass Harm sie nie so angesehen hatte. Genau genommen erinnerte sie sich an keinen Mann, der sie je mit solch einem Blick bedacht hatte.

‚Verdammt, reiß dich zusammen. Schlimm genug, dass du aus persönlichen Gefühlen heraus nicht das getan hast, was man vor dir verlangt. Jetzt aber in Selbstmitleid zu baden, bringt dich auch nicht weiter!' Kate straffte die Schultern und begann mit ihrer Arbeit.


Giovanni's Pizzeria
Nähe Grosvenor Square, London
13:25 Uhr Zulu

„Und, gehört Kate jetzt fest zu eurem Büro?“ fragte Mac zwischen zwei Bissen von ihrer Meeresfrüchtepizza.
„Um ehrlich zu sein, keine Ahnung. Der Admiral meinte, sie wäre wohl nur vorübergehend bei uns, weil ihre bisherige Dienststelle geschlossen wurde. Aber stören würde es mich nicht, wieder mit ihr zusammenzuarbeiten“, erwiderte Harm.
„Das glaube ich wohl….“ Mac schenkte ihm einen dieser Blicke, eine Mischung aus Eifersucht und Sarkasmus.
„Nicht, was du gleich wieder denkst.“ Harm schüttelte grinsend den Kopf. „Ich bin bereits vergeben, schon vergessen?“
„Nein. Ich wollte nur sichergehen, dass DU es nicht vergisst“, grinste Mac zurück und fügte leise hinzu: „Und hoffentlich vergisst Kate es auch nicht…“

„Mac, du glaubst doch nicht allen ernstes, dass Kate nach dieser langen Zeit noch Interesse an mir hat? Ich mein, dass ist jetzt wie lange her, zehn Jahre? Und es waren nur ein paar Tage…. Meine Güte, ich will nicht wissen, wie viele Typen sie in der Zwischenzeit schon hatte.“
„Hm…. Da wäre ich mir nicht so sicher. Mir ist nicht entgangen, wie sie dich ansieht. Sie hat zwar vorhin so getan, als ob sie sich für uns freut, aber glaub' mir. Ich erkenne eine verletzte Frau, wenn ich sie sehe.“
„Meinst du nicht, dass du da zuviel hineininterpretierst?“
Mac schüttelte den Kopf. „Ich bin mir ziemlich sicher darüber, was ich gesehen habe. Glaub mir, eine Frau spürt so was.“

Harm blickte seine Frau nachdenklich an. Hatte Mac tatsächlich Recht? Empfand Kate wirklich noch etwas für ihn? Sicher, er fühlte sich geschmeichelt, wenn es so wäre. Aber für ihn war das Kapitel ein für alle mal abgeschlossen. Bei ihrem letzten Wiedersehen hätte er noch einmal schwach werden können. Renee wäre vermutlich kein guter Hinderungsgrund für ihn gewesen, wie er zu seiner Schande gestehen musste. Aber jetzt da er verheiratet war, und zwar mit der wundervollsten Frau der Welt, war eine Affäre definitiv keine Option mehr für ihn. Seine Ehe wollte er auf gar keinen Fall aufs Spiel setzen. Und wofür auch? Es gab nichts, was er nicht auch mit Mac erleben konnte, soviel stand fest. Sie war die Verkörperung all dessen, was sich ein Mann nur erträumen konnte: Freundin, Geliebte und bald auch Mutter seines Kindes. Falls Kate ihm tatsächlich Avancen machen sollte, wäre es wohl besser, ihr möglichst aus dem Weg zu gehen.

Mac schien, wie so oft, seine Gedanken zu lesen, denn sanft ergriff sie seine Hand und küsste seine Handfläche.
„Ich vertraue dir, Harm. Ich weiß nur nicht, ob ich IHR trauen kann.“
Mit der Hand, die Mac hielt, streichelte Harm ihr Gesicht. „Keine Sorge, Liebes“, antwortete er schließlich und lächelte Mac aufmunternd an. „Dazu gehören immer noch zwei. Und ich habe nicht vor, der zweite zu sein.“


Bank of America
888 17Th St Nw, Washington D.C.
09:15 Uhr EST (14:15 Uhr Zulu)

Es war noch recht früh am Tag, doch die ersten Kunden warteten bereits am Bankschalter, um Geld abzuheben oder Überweisungen zu tätigen. Für Ende September war es noch erstaunlich warm, und ausgerechnet heute war die Klimaanlage ausgefallen. James Miller saß an seinem Schreibtisch und zog bereits zum hundertsten Mal seine Krawatte etwas vom Hals zurück, um nicht komplett bei diesen Temperaturen einzugehen. Da er für die Betreuung der etwas betuchteren Kunden zuständig war, herrschte bei ihm zum Glück kein Andrang wie am Schalter, und so konnte er vorerst noch diversen Papierkram abarbeiten.

„Guten Morgen, Mr. Miller“, sprach ihn kurz darauf ein Kunde an, woraufhin James Miller den Kopf aus seinen Unterlagen hob. Es war ein Mann mittleren Alters, graumeliertes Haar, gepflegter Schnurrbart. Der Anzug sah aus wie maßgeschneidert. „Man sagte mir“, fuhr dieser fort, „ich solle mich wegen meines Schließfachs an Sie wenden.“
„Guten Tag, Sir. Bitte, nehmen Sie doch Platz.“ Miller wies mit der Hand auf den Bürostuhl ihm gegenüber, und der Herr setzte sich und stellte seinen Aktenkoffer neben sich ab. „So, Sie haben also ein Schließfach bei uns, Sir? Ich benötige dann Ihren vollständigen Namen und die Fachnummer.“
„Charles Perkins, Nummer 1285.“
James Miller tippte die genannten Angaben in seinen Computer, um die entsprechenden Daten aufzurufen.
„Ah ja, da haben wir Sir ja, Sir. Ich benötige dann noch einen Ausweis von Ihnen.“

Mr. Perkins reichte ihm das gewünschte Dokument, und James Miller verglich das Lichtbild mit der Person, die ihm gegenüber saß. Er nickte zustimmend, als er den Ausweis zurückgab. Dann fischte er ein Formular für die Öffnung von Schließfächern aus einem Ablagekorb und begann, dieses auszufüllen. Er trug den Namen des Besitzers, sowie das aktuelle Datum und die Uhrzeit ein. Außerdem vermerkte er, dass die Identität geprüft worden war.

„Ich benötige dann noch hier unten eine Unterschrift, Sir.“ Miller schob das Formular über den Schreibtisch und reichte Mr. Perkins einen Kugelschreiber, der diesen ergriff und seinen Namen an die entsprechende Stelle setzte. „Wenn Sie mir dann bitte folgen würden?“

James Miller erhob sich, und Charles Perkins folgte ihm. Miller führte seinen Kunden in den hinteren Bereich der Bank, durch eine gepanzerte Tür hindurch zum Raum, der die Schließfächer der Kunden enthielt. Perkins öffnete in Anwesenheit von James Miller sein Schließfach und entnahm den Inhalt, eine größere Stahlkassette. Anschließend führte Miller seinen Kunden zu einer abgetrennten Kabine, wo dieser in Ruhe den Inhalt der Kassette begutachten konnte.

Perkins schloss die Kabinentür hinter sich und stellte die Kassette auf den kleinen Tisch vor sich ab. Den Aktenkoffer, den er ebenfalls in der Hand gehalten hatte, stellte er daneben. Dann holte er einen weiteren kleinen Schlüssel aus der Sakkotasche und öffnete die Kassette. Darin befanden sich Bargeld, mehrere Pässe sowie ein Schlüssel zu einem weiteren Schließfach. Perkins zählte die Bündel Geldscheine, es waren exakt 100.000 Dollar.

‚Alles an seinem Platz, so soll es sein', grinste Perkins in sich hinein. Er verstaute das gesamte Geld und die Pässe in seinem Aktenkoffer sowie den Schlüssel in seiner Sakkotasche. Dann verschloss er die Stahlkassette wieder und begab sich nach draußen, wo Mr. Miller auf ihn gewartet hatte.

„Ich hoffe, es war alles zu Ihrer Zufriedenheit, Sir“ fragte dieser.
„Aber ja, alles bestens. Vielen Dank!“ erwiderte Perkins.

Nachdem Perkins die Kassette wieder in dem Schließfach verstaut hatte, begleitete James Miller ihn wieder nach draußen in den offiziellen Bereich der Bank.

„Ein schönen Tag noch, Sir“, verabschiedete Miller Mr. Perkins.
„Den werde ich haben….“, murmelte Perkins, während er die Bank verließ.

Vor dem Gebäude stieg er in eine parkende Lincoln-Limousine, hinter dessen Steuer ein farbiger Mann wartete. Dieser machte einen offensichtlich nervösen Eindruck.

„Mann, Palmer, du hast echt Nerven! Mit einer geklauten Karre mitten durch D.C. und in 'ne Bank rein, wo der Präsident hinspucken kann, wenn er aus'm Fenster vom Weißen Haus guckt.“
„Mach dir nicht ins Hemd, Johnson! Niemand würde auf die Idee kommen, dass wir ausgerechnet hier sind, das macht die Sache ja so sicher. Die Polizei denkt bestimmt, dass wir überwachte Gebiete meiden.“

Clark Palmer entfernte vorsichtig den angeklebten Schnurrbart und setzte die Perücke ab. Er fuhr sich mit der Hand mehrmals durch die Haare. Palmer liebte es, sich zu verkleiden und die Leute zu narren. Wenn man unter solchen Verkleidungen nur nicht so fürchterlich schwitzen würde. Dieser Teil seiner Vorbereitungen war nun erledigt, bereits vorher hatte er einige Kleidungsstücke und andere Gegenstände aus einem seiner Notfallverstecke geholt. Nun mussten sie noch den restlichen Teil seiner technischen Ausrüstung besorgen, den er in einem letzten Schließfach aufbewahrte.

„Wir fahren jetzt rüber nach Virginia und holen den Rest. Und dann, dann machen wir einen Ausflug nach London.“ Ein grausames Lächeln umspielte Clark Palmer's Mund, während Larry Johnson das Fahrzeug in Bewegung setzte.


Naval Legal Service Office
7 North Audley, London
15:00 Uhr Zulu

Nachdem Harm vom gemeinsamen Mittagessen mit Mac zurückgekehrt war, hatte er sich gleich wieder in seinem Büro verkrochen, um an einem Fall weiterzuarbeiten. Kate hatte inzwischen die ihr übertragene Arbeit aufgenommen und beobachtete unauffällig jede seiner Bewegungen. Sie war gerade in der Teeküche dabei, frischen Kaffee aufzusetzen, als Harm mit einem ebenfalls leeren Kaffeebecher dazukam.

„Der Kaffee dauert noch ein bisschen“, begann sie nebenbei eine Unterhaltung mit ihm.
„Kein Problem, eilt nicht“, erwiderte er geistesabwesend. Ihm ging das Gespräch mit Mac nicht aus dem Kopf.
„Schon komisch“, redete Kate im Plauderton weiter. „Beim letzten Mal wolltest du mir noch weismachen, dass zwischen und dir und Mac nichts läuft. Und jetzt seid ihr verheiratet. Wie kam es zu diesem Meinungsumschwung?“

Harm sah sie irritiert an. ‚Wieso ist sie so an meiner Beziehung zu Mac interessiert?“ dachte er. „Mein Privatleben scheint dir wohl keine Ruhe zu lassen, wie es scheint“, antwortete er stattdessen.
„Entschuldige, ich wollte dir nicht zu nahe kommen mit meinen Fragen. Ich dachte nur, weil wir uns doch so lange nicht gesehen haben….“ Kate errötete und sah verlegen zur Seite.
„Schon gut, ich hab ja nichts zu verbergen…“, versuchte Harm die Situation wieder zu entschärfen. „Du hattest damals Recht mit dem, was du über uns gesagt hattest. Es hat nur sehr lange gedauert, bis uns beiden das auch klar war und wir es auch zugelassen haben. Und dann ging es halt sehr schnell. Wir sind zwar erst seit ein paar Monaten offiziell ein Paar, aber in den neun Jahren, die wir als Partner zusammengearbeitet haben, haben wir uns wohl besser kennen gelernt als so manch anderer in einem ganzen Leben.“

„Wow“, antwortete Kate. „Ihr zwei seid echt zu beneiden. Hoffentlich werde ich dieses Glück auch mal haben. Hey, ich hab neulich ein Bild von dir in der Zeitung gesehen. Du hast dem Botschafter das Leben gerettet?“
„Ähm, ja… aber du kennst doch die Presse, die müssen immer alles zu einer Riesen-Story aufbauschen.“ Nun war es Harm, der verlegen dreinschaute.
„Na hör mal, du warst doch sogar schwer verletzt und hast im Koma gelegen! Also ich finde es sehr heldenhaft, was du getan hast.“ Dabei strahlte Kate ihn mit leuchtenden Augen an, dass Harm sie sekundenlang gedankenverloren anstarrte. Dann endlich riss er sich wieder von ihrem Blick los.
„Der Kaffee ist fertig….“, sagte er hastig und langte nach der Kanne, um seinen Becher zu füllen. „Bis später“, fügte er noch schnell hinzu und verschwand aus der Küche.

Kate sah ihm hinterher und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. So ganz immun gegen ihre Reize schien der Gute wohl doch nicht zu sein. Wer weiß, vielleicht hatte sie ja doch noch eine Chance bei ihm…?


Naval Legal Service Office
7 North Audley, London
Harm's Büro
15:15 Uhr Zulu

Harm saß an seinem Schreibtisch, die Ellenbogen auf die Tischplatte gestützt, und massierte seine Schläfen. Hatte er Kate eben angestarrt?? Verdammt ja, das hatte er. Harm fühlte sich grauenvoll. Seit wann war er denn so empfindlich? Früher hatte es ihm nichts ausgemacht, mit zwei Frauen parallel auszugehen und nun kam es ihm fast so vor, als hätte er Mac betrogen, nur indem er eine andere Frau zu lange angesehen hatte! Sein Blick fiel auf das Hochzeitsbild von Mac und ihm, das seinen Schreibtisch zierte. Sie hatte so wunderschön ausgesehen in ihrem weißen Kleid, und auch jetzt noch stockte ihm fast der Atem, wenn er es ansah. Im unteren Teil des silbernen Bilderrahmens, Mattie's Hochzeitsgeschenk, waren ihre Namen eingraviert: Sarah & Harmon Rabb. Sarah… Ein glückliches Lächeln ließ seine Mundwinkel nach oben steigen.

‚Du bist nicht empfindlich, alter Junge. Du bist nur unsterblich verliebt…!'


Kapitel 7


Eine Woche später
Irgendwo in Kensington and Chelsea, London
07:15 Uhr Zulu

Der silberne Rover fuhr langsam durch die noch unbelebten Straßen. Die herabgefallenen Blätter raschelten unter den Reifen, und es war noch dunkel um diese Zeit. Dunst hing über den Dächern, und es war unangenehm kühl und feucht. Die Temperatur war binnen weniger Tage um 10 Grad gefallen. Der Herbst hatte die Stadt eindeutig in seinen Fängen.

Der Mann hinter dem Steuer schaute sich aufmerksam um, da er eine bestimmte Adresse suchte. Er musste schon ganz in der Nähe sein, hatte sie aber noch nicht ausfindig gemacht. Vereinzelt lief ein Passant auf dem Gehweg an ihm vorbei, und jedes Mal war er gezwungen, sein Gesicht zu verdecken, um nicht erkannt zu werden. Endlich hatte er das gesuchte Haus gefunden. Es war ein typisches Reihenhäuschen mit Garage und Garten.

‚Meine Güte, Rabb. Du bist ja richtig spießig geworden', dachte Palmer, während er den Wagen etwas entfernt am Straßenrand abstellte. Es war ein leichtes gewesen, Harm's Adresse herauszufinden. Und nun war er hier, um sich selbst ein Bild von allem zu machen. Eine gründliche Vorbereitung war absolut wichtig, wenn er wollte, dass sein Racheplan funktionierte. Außerdem musste er erst noch mehr über Harm's Tagesablauf und dessen gesamtes Umfeld in Erfahrung bringen, bevor er sein weiteres Vorgehen festlegen konnte. Daher postierte er sich nahe des Hauses, um abzuwarten, bis sein Erzfeind es verlassen würde.

Eine halbe Stunde später wurde Clark Palmer's Geduld belohnt. Die Haustür öffnete sich. Schnell hatte Palmer sein Fernglas zur Hand, um besser beobachten zu können. Harmon Rabb verließ wie erwartet das Haus. Aber halt! Er war nicht allein. Eine brünette Frau begleitete ihn. Palmer erkannte sie nicht sofort, trug sie doch jetzt die Haare länger und keine Uniform mehr. Aber es war eindeutig Sarah MacKenzie, Rabb's Partnerin. Oder sollte er sagen 'Lebensgefährtin'? Zumindest machten beide einen sehr vertrauten Eindruck. Schließlich verließ noch ein junges Mädchen das Haus. Sie mochte im Teenager-Alter sein, schätzte Palmer. Hatte Rabb sich etwa plötzlich eine Familie zugelegt? Wenn dem so war, so hatte er ja noch viel mehr Möglichkeiten, seine kreativen Fähigkeiten auszuleben, als er gedacht hatte. Gespannt beobachtete er, wie alle drei in einen Navy-Dienstwagen stiegen und davonfuhren. Das war seine Chance, endlich an mehr Informationen heranzukommen.

Nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand in der Nähe war, stieg Palmer aus seinem Wagen und näherte sich im Halbdunkel unauffällig dem Zielobjekt. Rasch sah er sich noch einmal um, dass er unbeobachtet war, dann ging er zur Rückseite des Hauses. Aus einer Jackentasche zog er ein Paar Handschuhe, die er sich überstreifte, und ein schmales Etui mit diversen Dietrichen. In Sekundenschnelle hatte er die Terrassentür geöffnet und trat ein. Leise schloss er die Tür hinter sich und begann, sich umzusehen.

„Gemütlich hier, dass muss man ihnen lassen“, murmelte Palmer. Aber er war nicht hier, um das Innendesign zu begutachten. Er trat näher an den Kaminsims heran, auf dem mehrere Bilderrahmen standen. In einem der Rahmen war ein Hochzeitsfoto von Rabb und Sarah MacKenzie. ‚Die beiden sind verheiratet', fuhr es ihm durch den Kopf, und unwillkürlich musste er grinsen. Das wurde ja immer besser! Mal sehen, was für nette Überraschungen er noch finden würde.

Palmer streifte weiter durch das Wohnzimmer. In einer Ecke standen ein Schreibtisch und daneben ein Regal mit verschiedenen Aktenordnern. Vorsichtig nahm er einen Ordner nach dem anderen aus dem Regal und überflog den Inhalt. Sie enthielten jedoch nichts, was für ihn interessant gewesen wäre. Doch im letzten Ordner befand sich ein Dokument, welches seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war eine Adoptionsurkunde für eine Mathilda Grace, deren Namen danach in Mathilda Rabb geändert worden war. Nach dem Geburtsdatum zu urteilen, musste es sich dabei um das Mädchen handeln, welches vorhin zusammen mit Rabb und dessen Frau das Haus verlassen hatte. Palmer war fast ein wenig schockiert über so viel Bürgerlichkeit und Sesshaftigkeit. Was war aus dem Harmon Rabb geworden, der ohne Rücksicht auf persönliche Verluste auf die Jagd nach ihm gegangen war? Nun, da musste er sich dann wohl etwas ganz besonderes einfallen lassen. Fürs erste entschied er sich aber dafür, seine persönliche Sightseeing-Tour durch das Haus der Rabb's fortzusetzen. Grundsätzlich hatte er zwar vorerst alle Informationen, die im hier von Nutzen sein konnten. Aber zugegebenermaßen war er einfach zu neugierig, um wieder zu gehen, ohne die restlichen Zimmer besichtigt zu haben.

Lautlos stieg er die Treppe hinauf ins obere Stockwerk. Als erstes warf er einen Blick in ein Schlafzimmer, das definitiv zu Mathilda gehören musste. Das zweite war offensichtlich das Schlafzimmer von Mr. Und Mrs. Rabb, welches für ihn interessanter war. Aufmerksam sah er sich um, und sein Blick fiel auf einen der Nachttische, aus dem ein rotes Stück Stoff hinauslugte.

‚Mrs. Rabb, was tragen wir denn da nettes?', dachte er grinsend. Er kniete sich vor den Nachttisch und wollte eben den Rest des roten Stoffes begutachten, als er auf der Ablage etwas weit aus interessanteres entdeckte. Er hob es hoch und sah es sich genau an. Er war zwar kein Arzt, doch seine medizinischen Kenntnisse waren mehr als ausreichend, um zu erkennen, um was es sich handelte: ein Ultraschallbild eines Fötus. Harmon Rabb wurde offensichtlich Vater! Na, wenn das kein Glückstag für Palmer war. Sein Grinsen wuchs in die Breite und er musste sich zusammenreißen, um nicht lauthals loszulachen.

Rabb wusste gar nicht, welchen Gefallen er ihm damit getan hatte. In Gedanken nahm Palmer's Rache langsam Gestalt an.


Harm und Mac's Haus
Kensington and Chelsea, London
02:13 Uhr Zulu

Im Halbschlaf drehte Mac sich auf die Seite und tastete mit der Hand nach Harm. Aber das Bett war leer. Schlaftrunken öffnete sie die Augen, es dauerte jedoch eine Weile, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte und Harm's Umrisse am Fenster entdeckte. Er stand dort in seinen Bademantel gehüllt, mit verschränkten Armen, und starrte aus dem Fenster. Leise schwang Mac ihre Beine aus dem Bett und ging zu ihrem Mann hinüber. Zärtlich schlang sie ihre Arme von hinten um ihn. Er zuckte unter ihrer Berührung kurz zusammen, entspannte sich dann aber und legte seine Hand auf ihre.

„Hey, wieso schläfst du nicht, Prinzessin?“ fragte Harm leise.
„Weil das Bett ohne dich so leer und kalt ist. Was ist los?“
„Konnte nur nicht schlafen.“
„Bedrückt dich etwas?“ hakte Mac sanft nach.
„Nein, eigentlich nicht….“, antwortete Harm zögernd.
„Aber?“

Harm seufzte.

„Ich musste nur in den letzten Tagen häufig daran denken, wie radikal sich mein Leben in den letzten paar Monaten verändert hat. Nicht nur, was uns betrifft. Auch beruflich. Ich meine, früher sind wir ständig unterwegs gewesen, von einem Ende der Welt zum anderen. Und jetzt komme ich selten mal hinter meinem Schreibtisch weg.“
„Ich weiß, was du meinst. Naja, du hast ja jetzt auch viel mehr Verantwortung als früher. Du wirst halt HIER gebraucht“, versuchte Mac ihn aufzumuntern. Dann fragte sie vorsichtig: „Bereust du es, wie dein Leben jetzt verläuft?“

Harm löste sich aus ihrer Umarmung, drehte sich zu ihr um und legte seine Arme um sie. „Keine Sekunde“, antwortete er bestimmt und lächelte sie an.
Mac stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihren Mann einen Kuss auf die Lippen zu hauchen. Plötzlich verzog sie das Gesicht und hielt sich eine Hand auf den Bauch.

„Was ist los, Schatz? Hast du Schmerzen?“ fragte Harm besorgt.
„Nein, nicht direkt. Es war mehr ein Ziehen…“, antwortete sie. Dann breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. „Ich glaube, das Baby tritt mich! Da, schon wieder!“

Harm kniete sich vor seine Frau und legte vorsichtig seine Hände auf ihren Bauch. Und tatsächlich, er konnte kleine Bewegungen spüren.

„Das ist unser Kind!“ flüsterte er und sah glücklich lachend zu Mac hinauf. Dann küsste er zärtlich ihren Bauch, lehnte sanft seinen Kopf dagegen und schlang seine Arme um ihre Hüften. „Ich liebe dich, Sarah“, flüsterte Harm ihr zu.
„Und ich liebe dich…. Daddy!“ Lächelnd sah Mac auf ihren Mann hinab und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn.

Harm stand wieder auf und zog Mac zum Bett hinüber, wo sich beide setzten. Dann nahm er ihre Hand in seine.

„Was mir gerade einfällt…“, begann er. „Wir haben uns noch gar nicht überlegt, wie das Baby heißen soll?“
„Ja, du hast Recht“, antwortete Mac überrascht. Daran hatte sie tatsächlich noch nicht gedacht. „Wollen wir uns denn jetzt überhaupt schon festlegen, oder warten wir, bis wir wissen, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird?“ Mac sah Harm fragend an.
„Hm, ich weiß nicht. Wollen wir es überhaupt erfahren, oder lassen wir uns überraschen?“
„Ich würde es schon gerne wissen, denke ich. Und du?“
„Ich könnte mich durchaus auch überraschen lassen.“ Harm grinste seine Frau an. „Mir scheint, wir sind uns mal wieder nicht ganz einig.“
„Zur Not können wir ja eine Münze werfen“, grinste Mac zurück. „Aber um ehrlich zu sein, würde ich mir gern morgen den Kopf weiter darüber zerbrechen, und lieber noch eine Runde schlafen“, gähnte sie.
„Hierbei sind wir uns dann wieder einig“, erwiderte Harm lächelnd, der nun auch schläfrig wurde.

Beide krabbelten in die Mitte des Bettes, und Mac kuschelte sich eng an ihren Mann. Bald darauf waren sie eingeschlafen.

Kapitel 8


Zwei Wochen später

Naval Legal Service Office
7 North Audley, London
Harm's Büro
10:53 Uhr Zulu

„Würden Sie das bitte noch einmal wiederholen, Petty Officer? Ich glaube, ich habe nicht ganz richtig gehört.“ Harm sah seinen Assistenten mit eisigem Blick an, während der mit zitternden Knien und schweißnassen Händen vor seinem Schreibtisch stand. Petty Officer Sinclair räusperte sich.
„Ich bitte um Erlaubnis, mit Ihrer Tochter ausgehen zu dürfen! Sir!“ wiederholte Sinclair.

Langsam stand Harm von seinem Drehstuhl auf und ging um den Schreibtisch herum, bis er direkt vor dem Petty Officer stand. Dieser wagte es nicht, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen, und starrte weiterhin geradeaus. Harm lehnte sich an den Schreibtisch und verschränkte in bester Chegwidden-Manier die Arme vor der Brust.

„So, so. Mit meiner Tochter also. Und Sie möchten mein Einverständnis dafür?“
„Ja, Sir. Ich finde Mathilda sehr nett und würde sie gern etwas besser kennenlernen. Wenn Sie erlauben, Sir.“

Harm sah seinen Untergebenen mit finsterem Blick an, als wollte er ihn gleich einen Kopf kürzer machen. Insgeheim jedoch musste er sich zusammenreißen, um nicht in Gelächter auszubrechen. Es machte ihm unheimlich viel Spaß, Sinclair so zappeln zu lassen. ‚So muss ich dann wohl früher ausgesehen haben, wenn der Admiral mir mal wieder eine Standpauke gehalten hat', dachte er innerlich grinsend.

Na schön, Petty Officer. Erlaubnis erteilt, aber nur unter drei Bedingungen! Erstens: Sie benehmen sich wie ein Gentleman und lassen Ihre Hände bei sich, verstanden?“
„Verstanden, Sir!“
„Gut. Zweitens: Sie bringen meine Tochter allerspätestens um Mitternacht wieder nach Hause. Und ich meine nicht 00:15 Uhr oder 00:05 Uhr, sondern Punkt 00:00 Uhr!“
„Ja, Sir. Spätestens Punkt 00:00 Uhr!“
„Und drittens, und dieser Punkt ist mir besonders wichtig: wenn Sie meine Tochter nach dem ersten Date fallen lassen wie eine heiße Kartoffel, dann werde ich persönlich dafür sorgen, dass sie den Rest Ihrer Dienstzeit auf einem Eisbrecher vor Alaska verbringen! Hab ich mich klar ausgedrückt?“
„Aye aye, Sir. Klar und deutlich!“
„Gut! Wegtreten!“

Petty Officer Sinclair machte auf dem Absatz kehrt und verließ das Büro seines Vorgesetzten. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, musste er erst einmal tief durchatmen.

Lief doch gar nicht so übel“, murmelte er.


Botschaft der USA
24 Grosvenor Square, London
Mac's Büro
17:13 Uhr Zulu

„Und der Termin klappt hundertprozentig? Da kann ich mich drauf verlassen ja?“
……
„Wunderbar. Und seien Sie bloß vorsichtig mit den Fahrzeugen! Wenn da auch nur ein Kratzer dran ist….“
…..
„Ihr Wort in Gottes Ohr… Gut, also nächsten Dienstag. Auf Wiederhören.“

Zufrieden legte Mac den Telefonhörer zurück. Soeben hatte sie sich noch einmal vergewissert, dass Harm's „Geburtstagsgeschenke“ auch ja pünktlich geliefert wurden. Seit sie in London waren, hatte er es nämlich noch nicht fertig gebracht, seine geliebte Corvette und die Harley hierher verschiffen zu lassen. Schon mehrmals hatte er vorgehabt, sich darum zu kümmern, doch aus Zeitgründen es dann noch nicht geschafft. Daher hatte Mac die Sache in die Hand genommen, um ihn damit zu seinem Geburtstag in der kommenden Woche zu überraschen.

‚Der wird Augen machen', dachte sie fröhlich grinsend.


Naval Legal Service Office
7 North Audley, London
Admiral Wilson's Büro
19:22 Uhr Zulu

„Sie wollten mich noch sprechen, Sir?“ Harm betrat das Büro seines Vorgesetzten.
„Ja, Captain. Bitte, nehmen Sie Platz!“ Admiral Wilson klappte die vor ihm liegende Akte zu und setzte seine Lesebrille ab.
„Um was geht es, Sir?“ Harm war etwas irritiert, dass der Admiral ihn zu dieser Zeit noch sprechen wollte. Es war ein langer Tag gewesen, und er wollte möglichst bald nach Hause zu seiner Familie.
„Nun, es gibt da eine Sache, die ich mit Ihnen besprechen muss“, begann Wilson bedächtig. „Es wird sie vielleicht etwas überraschen, dies zu hören, aber ich werde im nächsten Monat die Navy verlassen und in Pension gehen.“
„Oh, das ist in der Tat eine Überraschung, Sir. Wie kommen Sie zu dieser plötzlichen Entscheidung, wenn ich fragen darf?“ Mit dieser Ankündigung hatte Harm nicht gerechnet.
„Diese Entscheidung ist nicht so plötzlich gefallen, wie Sie vermuten, Captain. Ich habe bereits vor zwei Monaten meine Pensionierung beantragt. Bevor bestimmte Dinge nicht geregelt waren, wollte ich es jedoch nicht an die große Glocke hängen.“
„Verstehe, Sir. Wissen Sie schon, wer Ihr Nachfolger wird?“
„Darüber wollte ich mit Ihnen reden. Captain, ich möchte, dass SIE der nächste JAG Europe werden.“

Harm, der bisher eher lässig auf seinem Stuhl gesessen hatte, setzte sich augenblicklich kerzengerade hin.

„Ich, Sir?“ fragte er ungläubig.

„Ja“, antwortete Wilson mit einem breiten Grinsen. Seine kleine Überrumplung hatte seine Wirkung offensichtlich nicht verfehlt. „Ich habe das mit dem SecNav bereits geklärt. Natürlich nur, wenn Sie diesen Posten möchten. Die Navy würde Ihnen auch beim Kauf Ihres Hauses behilflich sein. Also was sagen, Sie?“

Harm war immer noch etwas sprachlos. Er rang nach Worten, brachte aber keinen vernünftigen Ton raus. ‚Reiß dich zusammen, du Idiot! Dir wird gerade der Job deines Lebens angeboten, und du stammelst blöd in der Gegend rum!' schoss es ihm durch den Kopf. Er schluckte und holte einmal tief Luft, ehe er erneut zu einer Antwort ansetzte.

„Ich fühle mich sehr geehrt, Sir, dass Sie mich für diese Stelle vorgesehen haben. Aber mit Verlaub, ich kann das jetzt nicht sofort entscheiden.“
„Verstehe, Sie möchten erst mit Ihrer Frau darüber sprechen?“
„Ja, Sir. Ich bin natürlich durchaus in der Lage, eine solche Entscheidung selbst zu treffen, aber…“
„Aber…“, fiel ihm der Admiral ins Wort. „…Ihre Frau muss ihren Segen dazu geben, damit der Haussegen nicht schief hängt und es heißt, Sie würden alle wichtigen Entscheidungen allein treffen.“

Der Admiral bemerkte Harm's verblüfften Gesichtsausdruck. Anscheinend hatte er ins Schwarze getroffen!

„Sie vergessen wohl, Captain, dass Sie es hier mit einem seit 30 Jahren glücklich verheirateten Mann zu tun haben. Glauben Sie mir, ich weiß ganz genau, wie Frauen in dieser Hinsicht denken. Und bei Ihnen kommt noch erschwerend hinzu, dass Ihre Frau ein ehemaliger Marine ist. Mit denen ist nicht zu spaßen!“

Er setzte wieder ein breites Grinsen auf, und auch auf Harm's Gesicht machte sich ein solches breit.


Harm und Mac's Haus
Kensington and Chelsea, London
19:54 Uhr Zulu

„Ja, bis Freitag dann…. Ich freu mich auch…“

Mattie legte das Telefon zur Seite und grinste dabei über beide Ohren. Fröhlich summend stand sie vom Sofa auf und ging zu Mac in die Küche hinüber, die mit der Zubereitung des Abendessens beschäftigt war.

„Kann ich dir irgendwie helfen?“ fragte sie Mac.
„Du könntest schon mal den Tisch decken. Dein Vater müsste jeden Moment kommen, hoffe ich jedenfalls. Gibt es eigentlich einen bestimmten Grund, warum du wie ein Honigkuchenpferd grinst?“ fragte Mac neugierig.
„Ähm, tue ich das?“ fragte Mattie unschuldig, konnte aber das Lächeln tatsächlich nicht von ihrem Gesicht verbannen.
„Jaaaa“, antwortete Mac gedehnt. „Das tust du.“
„Naja, ich hab gerade mit Ryan Sinclair telefoniert…“
„Und?“
„Er hat mich für Freitag ins Kino eingeladen!“ Wieder wuchs Mattie's Grinsen, sie war sichtlich aufgeregt.

„Oh oh, das wird deinem Vater gar nicht gefallen…“, lachte Mac.
„Mac, das ist mir vollkommen egal! Er hat zu akzeptieren, mit wem ich ausgehe, und mit wem nicht. Und überhaupt, muss er es denn erfahren?“ Mattie sah Mac bittend an.
„Mattie, ich halte es für keine gute Idee, dein Date vor Harm zu verheimlichen. Er wird es ja doch erfahren, und dann ist er erst recht sauer, und zwar zu Recht. An deiner Stelle würde ich es ihm nachher beim Essen ganz ruhig erzählen. Er wird dir schon nicht den Kopf abreißen. Ich denke, er hat aus eurer letzten Auseinandersetzung gelernt.“
„Ach verdammt, du hast ja Recht. Na schön, da muss ich dann wohl durch.“

Das Geräusch eines sich im Schloss drehenden Schlüssels lenkte Mac's und Mattie's Aufmerksamkeit auch sich. Die Tür öffnete sich, und Harm betrat das Haus.

„Hallo, meine Süßen!“ begrüßte er fröhlich seine beiden Frauen.
„Hi!“ kam es zeitgleich zurück.

Mit Schwung hing Harm seinen Mantel an die Garderobe und ging dann in Richtung Küche. Unterwegs drückte er Mattie einen Kuss auf die Stirn, ehe er bei Mac angelangt war und sie stürmisch umarmte und quer durch die Küche wirbelte.

„Hey, was ist denn mit dir los?“ lachte sie. Doch statt ihr zu antworten, verschloss Harm ihre Lippen mit einem leidenschaftlichen Kuss, dass ihr fast die Luft wegblieb.
„Ähem, soll ich euch vielleicht allein lassen?“ kam es von Mattie.
„Nein, nicht notwendig“, grinste Harm, als er Mac wieder etwas los ließ. „Ich muss mit euch reden. Kommt, setzen wir uns aufs Sofa.“
„Harm, das Essen wird kalt“, protestierte Mac.
„Das Essen muss warten, Liebling. Das hier ist wichtiger.“

Mattie warf Mac einen fragenden Blick zu, doch die zuckte nur mit den Schultern. Gemeinsam nahmen sie auf dem Sofa Platz.

„Also, was würdet ihr davon halten, wenn wir längerfristig in London blieben?“ begann Harm und sah Mac und Mattie erwartungsvoll an.
„Naja, es gibt schlimmeres“, meinte Mattie trocken.
„Und was ist mit dir?“ Harm sah Mac fragend an.
„Ich könnte es mir durchaus vorstellen. Aber warum fragst du?“ antwortete sie etwas verwirrt.
„Es sieht so aus, dass Admiral Wilson nächsten Monat in Pension gehen wird. Und…“, Harm holte tief Luft, „er will dass ich sein Nachfolger als JAG werde!“
„Oh Harm, das ist ja großartig!“ Mac fiel ihrem Mann um den Hals.
„Wow, ja, toll…“, antwortete Mattie zurückhaltend.

Harm, der den Unmut aus ihrer Stimme herausgehört hatte, drehte sich zu Mattie um.

„Was ist los? Freust du dich nicht? Diese Stelle ist eine riesige Chance für mich. Und wir könnten das Haus hier kaufen und sesshaft werden. Wie eine richtige Familie…“
„Sind wir das dann noch? Ich mein, du wirst doch dann sicherlich noch mehr Zeit im Büro verbringen, und noch weniger bei uns…“ Mattie sah bedrückt nach unten.
„Mattie, ich weiß, dass es nicht leicht sein wird. Natürlich werde ich dann noch mehr Arbeit und Verantwortung haben als bisher. Aber ich verspreche euch beiden, dass ich jede freie Minute mit euch verbringen und alles dafür tun werden, damit ihr euch nicht vernachlässigt fühlt. Damit eins klar ist: meine Arbeit wird mir niemals so wichtig sein, wie ihr es für mich seid. Und wenn ihr partout dagegen seid, dann werde ich die Stelle als JAG nicht annehmen.“
„Wie schnell erwartet der Admiral deine Entscheidung?“ fragte Mac dazwischen.
„So schnell wie möglich. Er hätte schließlich nicht viel Zeit, um nach jemand anderem Ausschau zu halten.“ Harm drehte sich wieder zu Mac und sah sie an. „Was denkst du? Meinst du auch, dass ich dann zu wenig Zeit für euch hätte?“ fragte er unsicher.

„Nun, das könnte natürlich passieren. Aber ich werde jede deiner Entscheidungen unterstützen, das weißt du. Außerdem muss man das positiv sehen, Mattie.“ Mac sah nun ihre Adoptivtochter an, und diese hob den Kopf. „Wenn dein Vater mehr Zeit im Büro verbringt, dann kannst du mehr Zeit ungestört mit Ryan verbringen.“ Auf Mac's Gesicht zeichnete sich ein schelmisches Grinsen ab.
„Oh, du hast Recht“, erwiderte Mattie nachdenklich, und ergänzte. „Ich denke, du solltest den Job annehmen, Dad!“ Nun grinste auch sie frech.
„Hey, ich hab mich wohl gerade verhört. Was zum Henker hat denn jetzt Sinclair damit zu tun?“

Harm wusste natürlich ganz genau, was im Busch war, behielt es aber für sich. Mattie musste schließlich nichts von seinen „Abmachungen“ mit dem Petty Officer wissen.

„Ähm, ich bin am Freitag mit ihm verabredet!“ sagte Mattie schnell und sprang von der Couch. „Können wir jetzt endlich essen?“

Harm lächelte und schüttelte mit dem Kopf. Mac beugte sich zu ihm hinüber und küsste ihn sanft auf die Wange.

„Danke, dass du diesmal ruhig bleibst.“
„Schätze, ich werde mit dem Alter tatsächlich etwas weiser“, spielte er grinsend auf seinen bevorstehenden Geburtstag an.
„Hab ich schon erwähnt, dass ich weise Männer sexy finde?“


Kapitel 9


Tage später

Donnerstag, 20. Oktober 2005
Spice Island Inn
65 Broad Street, Portsmouth
21:33 Uhr Zulu

Laute Musik und fröhliches Gelächter erschallte durch das Spice Island Inn, einen traditionsreichen Pub am Hafen von Portsmouth. An diesem Abend waren einmal mehr viele Besatzungsmitglieder der verschiedenen Schiffe zu Gast, die im Hafen vor Anker lagen. Die Kellnerinnen hatten alle Hände voll zu tun, um die durstigen Matrosenkehlen mit Nachschub zu versorgen. Doch es floss reichlich Trinkgeld, was auch die eine oder andere anzügliche Bemerkung erträglich machte.

Unauffällig bewegte sich ein Mann unter ihnen, der das Treiben aufmerksam beobachtete. Er trug ebenfalls eine Uniform, gehörte aber zu keiner der anwesenden Gruppen. Als er genügend Wortfetzen aufgeschnappt hatte, ging er einen Moment vor die Tür, um frische Luft zu schnappen.
Er zog ein Mobiltelefon aus der Tasche und wählte eine Nummer.

„Ja?“ meldete sich eine männliche Stimme am anderen Ende.
„Sieht gut aus, ist viel los heute. Sollte kein Problem sein, Unruhe zu stiften.“
„Sehr gut. Dann leg los. Und sorg dafür, dass die Anwälte morgen viel zu tun haben.“
„Aber was ist, wenn sie ihn nicht schicken, sondern wen anderes?“
„Dieses Risiko müssen wir eingehen. Wenn es nicht klappt, dann fällt mir schon was ein. Und jetzt los, wir dürfen keine Zeit verlieren, Johnson!“

Larry Johnson steckte das Telefon wieder weg. Er verstand nicht ganz, warum sich Palmer so viel Mühe machte, um diesen Rabb aus London wegzulocken. Warum knallte er ihn nicht einfach ab, wenn er ein Problem mit ihm hatte? Egal, er wurde nicht fürs Denken bezahlt, sondern um das zu tun, was Palmer ihm sagte.

„Na schön“, murmelte er leise. „Zetteln wir eine kleine Schlägerei an.“


Eine Lagerhalle
Irgendwo in den Docklands, London
21:51 Uhr Zulu

Clark Palmer legte sein Mobiltelefon wieder an dessen Platz zurück. Sein Plan trat jetzt in die entscheidende Phase ein. Morgen würde sich herausstellen, ob er mit seinen Überlegungen Recht behalten sollte, oder ob er improvisieren musste. Sollte alles wie geplant funktionieren, müsste er sich morgen noch auf den Weg nach Portsmouth machen, um den einzigen Mitwisser zu erledigen. Er konnte das Risiko nicht eingehen, dass dieser während der laufenden Ermittlungen erkannt und möglicherweise geschnappt wurde. Und morgen Abend würde es dann tatsächlich ernst werden. Dieses Mal gab es kein Zurück mehr. Sollte sein Plan scheitern, würde er es beenden… für immer.


Freitag, 21. Oktober 2005
Naval Legal Service Office
7 North Audley, London
09:30 Uhr Zulu

Alle Mitarbeiter des JAG-Büros hatte ihre Arbeit unterbrochen, da Admiral Wilson eine Bekanntmachung angekündigt hatte. Nun warteten alle gespannt darauf, dass ihr CO aus seinem Büro kam. Endlich öffnete sich die Tür, und der Admiral betrat das Großraumbüro. Er stellte sich in die Mitte, dass ihn alle sehen konnten.

„Herrschaften, ich werde Ihre Zeit nicht unnötig lang in Beschlag nehmen, aber ich möchte Ihnen allen etwas Wichtiges mitteilen. Im nächsten Monat werde ich in den wohlverdienten Ruhestand gehen!“

Ein Raunen ging durch die Anwesenden.

„Bevor Sie wie wild spekulieren, wieso und weshalb, werde ich Ihnen diese Frage auch gleich beantworten: weil ich es so beschlossen habe. Es hat nichts mit der Navy oder meiner Arbeit hier zu tun, aber ich denke, irgendwann ist einfach der Punkt erreicht, an dem man mit einer Sache aufhören sollte. Mein Nachfolger steht auch bereits fest. Und keine Sorge, dies wird keine große Veränderung mit sich bringen, denn Sie kenne ihn bereits. Captain Rabb wird der nächste JAG für den europäischen Raum werden!“

Alle applaudierten, und Harm nickte den übrigen Mitarbeitern freundlich zu.

„So, das war's. Weitermachen!“ befahl der Admiral im gewohnten Kommandoton, und fügte hinzu: „Rabb und Pike in mein Büro!“

Harm und Kate taten wie befohlen und folgten ihrem Vorgesetzten in dessen Büro.

„Setzen Sie sich“, wies Wilson die beiden an und schlug die vor ihm liegende Akte auf. „Gestern Abend kam es zu einem kleinen Zwischenfall in einem Pub in Portsmouth. Es gab eine Prügelei zwischen mehreren Matrosen.“
„Was ist daran so ungewöhnlich, dass der zuständige JAG des Schiffes das nicht klären kann, Sir?“ fragte Harm sichtlich irritiert.
„Es waren Crewmitglieder verschiedener Schiffe und Nationalitäten in diese Prügelei verwickelt. Es waren insgesamt fünf amerikanische, drei britische, vier deutsche und drei italienische Matrosen beteiligt. Und dreimal dürfen Sie raten: es hat natürlich keiner angefangen! Es wird deshalb zu einem Treffen auf der HM Naval Base in Portsmouth kommen, zu dem alle betroffenen Besatzungen entsprechende Vertreter entsenden werden, um die Sache zu klären. Wir müssen unbedingt verhindern, dass es wegen so einer Lappalie zu einem internationalen Konflikt kommt. Daher möchte ich, dass Sie, Captain Rabb, die US Navy dort vertreten. Commander Pike wird Ihnen assistieren. Und denken Sie daran: diesmal ist diplomatisches Geschick unbedingt erforderlich. Wegtreten!“
„Aye aye, Sir!“

„Ach, Commander Pike, ich möchte Sie noch kurz sprechen“, hielt der Admiral Kate vom Verlassen des Büros zurück, während Harm hinausging.
„Ja, Sir?“
„Wie lange werden ihre Ermittlungen noch andauern? Sie sind ja nun schon eine ganze Weile bei uns, aber ich hatte bisher nicht den Eindruck, als wären Sie irgendwie weitergekommen.“
„Da haben Sie leider Recht, Sir. Ich vermute, dass der NCIS die Aktion bald abbrechen wird. Bisher gibt es leider noch keine Spur von Palmer. Wir wissen noch nicht einmal, ob er überhaupt in Großbritannien ist, Sir“, entgegnete Kate resigniert.
„Nun gut, passen Sie auf den Captain auf. Er wird hier noch gebraucht.“
„Das werde ich, Sir!“

Kate verließ Wilson's Büro und ging in Harm's hinüber, wo dieser gerade damit beschäftigt war, einige Unterlagen zusammenzupacken.

„Ich muss dir wohl gratulieren“, sagte sie lächelnd zu ihm.
„Danke“, erwiderte Harm. „Ich hoffe, dass ich es nicht bereuen werde.“
„Warum solltest du das? Das ist doch der Karrieresprung schlechthin. Wenn du in dem Tempo weitermachst, könntest du in ein paar Jahren bereits als JAG der ganzen Navy in Washington sitzen!“
„Kann schon sein. Ich habe nur Angst, dass meine Familie darunter leiden wird. Und wenn das der Fall sein sollte, werde ich auf der Stelle aufhören.“
„Du überrascht mich immer wieder aufs neue“, entgegnete Kate und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. „Ich hätte nicht gedacht, dass es für dich etwas Wichtigeres als die Navy geben könnte. Aber so langsam gefällt mir der neue Harmon Rabb.“
„Rotes Licht, Commander. Sie flirten doch nicht etwa mit einem verheirateten Offizier?“ grinste Harm.

„Würde mir nicht im Traum einfallen.“ ‚In der Realität aber schon', fügte Kate in Gedanken hinzu. Dann wechselte sie das Thema: „Wann wollen wir denn los nach Portsmouth?“
„Ich will noch kurz zu Mac rüber in die Botschaft, mich verabschieden. Dann muss ich noch kurz nach Hause, ein paar Sachen packen. Ich würde sagen in ca. zwei Stunden können wir losfahren. Soll ich dich bei dir zu Hause abholen?“
„Das wäre mir recht. Dann mach ich mich schon mal auf den Weg. Bis nachher.“


Liebe Grüsse Petra

Kalorien sind kleine Tierchen, die nachts die Kleidung enger nähen.

 
Petra-Andreas
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RE: Alte Freunde - Alte Feinde von Inque

#4 von Petra-Andreas , 14.05.2007 23:01

Botschaft der USA
24 Grosvenor Square, London
Mac's Büro
09:55 Uhr Zulu

„Klopf, klopf." Harm steckte seinen Kopf durch Mac's Bürotür. Diese sah verdutzt von ihren Unterlagen auf.
„Hey, was machst du denn hier? Waren wir verabredet?" Freudig stand sie vom Schreibtisch auf und ging auf ihren Mann zu, um ihn mit einem Kuss zu begrüßen.
„Nein, waren wir nicht. Ich wollte nur kurz vorbeischauen und mich verabschieden, bevor ich los muss."
„Los? Wohin denn?" Mac sah Harm verwundert an.
„Ich muss für ein paar Tage nach Portsmouth. Dort hat es eine Schlägerei unter Soldaten gegeben, und der Admiral möchte, dass ich mich um die Angelegenheit kümmere."
„Wegen einer Schlägerei musst ausgerechnet DU hin??"
„Es war nicht irgendeine Schlägerei, Mac. Es waren Besatzungsmitglieder vier verschiedener Schiffe aus vier Nationen beteiligt. Und da man einen internationalen Skandal vermeiden will, sollen Kate und ich auf US-amerikanischer Seite versuchen, das ganze diplomatisch zu lösen."
„Kate fährt auch mit?" fragte Mac, und ihr Blick verriet Harm, dass sie davon alles andere als begeistert war.

„Ja, natürlich. Wir arbeiten schließlich zusammen, schon vergessen?" Harm wollte Mac in den Arm nehmen, um ihr die Eifersucht zu nehmen, doch sie wehrte ihn ab.
„Und wenn ich dich bitte, allein zu fahren?" Mac sah ihn mit großen Augen an.
„Mac, was soll das? Wir hatten das Thema doch schon. Ich habe keinerlei Interesse an Kate, und sie hat sich mir gegenüber auch zurückgehalten. Also wo ist dein Problem?" Langsam wurde Harm wütend. So eifersüchtig kannte er Mac gar nicht.

„Mir ist nicht entgangen, wie sie dich ansieht. Oder dass sie fast nie von deiner Seite weicht, wenn ihr zusammen im Büro seid. Sie hängt wie eine regelrechte Klette an dir, und du merkst es noch nicht einmal! Und da soll ich mir keine Sorgen machen?" Nun ging mit Mac die Wut durch, und ihre Stimme war lauter geworden.

Auch Harm's Lautstärke steigerte sich nun: „Merkst DU eigentlich, wie lächerlich du dich gerade aufführst? Du bist grundlos eifersüchtig auf eine Frau, von der ich nichts will, und von der du dir einbildest, dass sie mir Avancen macht!"

„So, meine Gefühle sind also lächerlich für dich?" Mac war den Tränen nah. In ihren Augen konnte Harm erkennen, wie verletzt sie war, aber es konnte es einfach nicht begreifen, warum sie sich so aufführte.
„Das hab ich nicht gesagt, und das weißt du auch genau...." Harm's Stimme war schlagartig in ein Flüstern übergegangen. „Mac, ich werde jetzt nach Hause fahren und ein paar Sachen packen. Und dann werden Kate und ich losfahren. Willst du mir nicht wenigstens auf Wiedersehen sagen?"

Mac schwieg für einen Augenblick, ehe sie antwortete: „Fahr vorsichtig..." Sie blickte ihn noch einen Moment lang an, und eine Träne lief ihre Wange hinunter. Dann drehte sie ihm den Rücken zu. Sie hörte noch, wie Harm wortlos ihr Büro verließ, und die Tür hinter sich schloss. Dann verlor Mac die Kontrolle über ihre Gefühle, und sie brach in Tränen aus. Ihr Herz wollte ihm nachlaufen und ihm um den Hals fallen, doch ihr Stolz gewann rasch die Oberhand und gebot ihr, es nicht zu tun.

Seit ihrer Hochzeit war dies ihr erster richtiger Streit gewesen, und es gefiel ihr überhaupt nicht, wie er geendet hatte. Es erinnerte sie an die Zeit, bevor sie ein Paar geworden waren. Wie oft hatten sie da gestritten und sich dabei gegenseitig verletzt, indem sie sich schlimme Worte an den Kopf geworfen hatten. Sie hatte gehofft, diese Zeit sei vorbei. Doch schlagartig war sie eines besseren belehrt worden.


Kapitel 10


HM Naval Base
Portsmouth
13:36 Uhr Zulu

Larry Johnson saß in seinem Wagen in der Nähe der Einfahrt des britischen Marinestützpunktes und beobachtete die ankommenden Fahrzeuge. Palmer hatte ihm ein Foto von Harmon Rabb mitgegeben, so dass er ihn sofort erkannte, sollte er hier eintreffen. Bisher hatte Johnson jedoch kein Glück gehabt. Ein neu eintreffender PKW lies ihn jedoch genauer hinsehen. Es war ein Dienstwagen der Navy, und ein Mann und eine Frau saßen darin. Schnell nahm Johnson sein Fernglas zur Hand, um besser sehen zu können. Das musste Rabb sein! Er verglich noch einmal mit der Fotografie, die er dabei hatte. Kein Zweifel, Harmon Rabb war soeben auf der Bühne erschienen. Palmer hatte aber auch unverschämtes Glück, grinste Johnson in sich hinein.
Er holte sein Mobiltelefon hervor und wählte Palmer's Nummer.

„Ja?“ meldete sich Palmer.
„Er ist hier“, antwortete Johnson knapp.
„Wusste ich's doch“. Palmer lachte heiser. „Gut, bleib in seiner Nähe und behalt ihn im Auge. Ich melde mich wieder.“


Lagerhalle
Docklands, London
13:45 Uhr Zulu

Soeben hatte Palmer erfahren, dass der erste Teil seines Planes geglückt war. Bevor er jedoch den nächsten Schritt unternahm, musste er Johnson aus dem Weg räumen. Dieser hatte seinen Zweck erfüllt und wurde nun nicht mehr benötigt.
Gut gelaunt setzte sich Palmer in seinen Wagen und machte sich auf den Weg nach Portsmouth. Er musste sich beeilen, schließlich hatte er heute Abend noch etwas vor….


Ein Pub in der Nähe der HM Naval Base
Portsmouth
21:36 Uhr Zulu

Betrübt saß Harm an einem Tisch in einer dunklen Ecke des Pubs. Er nahm einen Schluck aus dem Bierglas, das vor ihm stand. Normalerweise war er kein großer Trinker, aber an diesem Abend war es bereits sein drittes.

„Hey, darf ich mich zu dir setzen?“ Kate Pike stand plötzlich vor ihm. Er nickte nur als Zustimmung, und sie nahm ihm gegenüber Platz.

Kate hatte bemerkt, dass etwas nicht mit ihm stimmte. Auf der gesamten Fahrt von London hierher war er ziemlich wortkarg gewesen und schien ständig in Gedanken versunken zu sein. Nachdem sie die Soldaten befragt hatten, die in die Schlägerei verwickelt gewesen waren, hatten sie noch das Personal des Spice Island Inn befragt, aber die waren bisher auch keine große Hilfe gewesen. Sie hatten dann anschließend ihr Quartier auf dem britischen Marinestützpunkt bezogen, und ehe Kate sich versehen hatte, war Harm ihr entwischt. Zum Glück hatte er jedoch den wachhabenden Offizier an der Einfahrt nach der nächsten Kneipe gefragt, und hier hatte sie ihn nun gefunden.
Trübsinnig starrte Harm geradeaus und durch sie hindurch. Was war nur plötzlich los mit ihm?

„Möchtest du darüber reden?“ fragte sie vorsichtig.
„Was?“ Er sah sie mit glasigen Augen an.
„Ob du darüber reden möchtest, warum du hier sitzt, als wäre jemand gestorben.“

Harm schwieg eine Weile. Sollte er ausgerechnet mit der Person über seinen Streit mit Mac reden, die der Auslöser dafür gewesen war? ‚Ach was soll's', dachte er. ‚Was kann schon schlimmeres passieren? Mac ist ja eh schon wütend auf mich.'

„Mac und ich haben vor unserer Abreise gestritten.“
„Oh… so schlimm?“
„Jep. Das war unser erster Streit bisher. Ich meine, unser erster Streit, seit wir verheiratet sind.“
„Und das nimmt dich gleich so mit? Sich hin und wieder zu streiten ist doch ganz normal in einer Beziehung, ob verheiratet oder nicht.“
„Das ist schwer zu erklären…“


Zur gleichen Zeit
Harm und Mac's Haus
Kensington and Chelsea, London
21:52 Uhr Zulu

Da Mac an diesem Abend das Haus für sich alleine hatte - Mattie war ja mit Ryan verabredet -, beschloss sie, sich einen gemütlichen Abend zu machen. Sie trug eine Jogginghose, dazu eins von Harm's T-Shirts und ihren Bademantel darüber. Trotz ihres schlimmen Streites am Vormittag vermisste sie ihn ganz schrecklich. Aber sie hatte sich nicht überwinden können, ihn anzurufen. Und er hatte es ja auch nicht für nötig gehalten! Aber indem sie sein T-Shirt trug, welches noch leicht nach ihm roch, fühlte sie sich ihm etwas näher. Nun saß sie also auf dem Sofa, die Beine hochgelegt, mit dem neuesten Roman von Tom Clancy in der Hand, und hoffte, dieser würde ihre trüben Gedanken vertreiben. Nebenbei lies sie im Radio einen Oldiesender laufen, damit es nicht so furchtbar still im Haus war.

Sie hatte gerade die ersten fünf Seiten gelesen, als ihre Aufmerksamkeit auf das Radio gelenkt wurde. Na toll, dachte Mac. Müssen die jetzt auch noch so ein deprimierendes Lied spielen?

Der Song hieß „What becomes…“

„… of the brokenhearted“. Verdammt, ausgerechnet dieser Song. ‚Naja, der passt wenigstens zu meiner Stimmung', dachte Harm, während er die Jukebox verfluchte.
„Ich hab Zeit“, antwortete Kate gelassen. „Es sei denn natürlich, du ziehst es vor, das ganze weiter in dich hineinzufressen.“

Harm seufzte. Vielleicht tat es ihm ja wirklich gut, mit jemandem darüber zu reden. Bisher hatte er Beziehungsprobleme immer mit sich selbst ausgemacht, aber wo zu das bisher geführt hatte, wusste er nur zu gut. Er lauschte wieder kurz dem Lied. Er erinnerte sich daran, es schon einmal gehört zu haben, als er ebenfalls in mieser Stimmung war. Wegen einer Frau natürlich. Damals kriselte es in seiner Beziehung zu Annie, und er hatte damals die bahnbrechende Hypothese aufgestellt,…

... dass es Glück sei, wenn es fünf Tage pro Monat gut gehe. Schließlich könne es nicht immer Klasse laufen, mit keiner Frau. Damals hatte Mac ihm widersprochen, obwohl sie selbst gerade eine Beziehung beendet hatte. Und auch jetzt sträubte sie sich dagegen, Harm Recht zu geben. Aber was war, wenn er Recht h a t t e? Hatten sie das Haltbarkeitsdatum ihres Glückes überschritten, und solche Streitereien würden jetzt zur Tagesordnung gehören? Warum mussten ihre Gefühle momentan auch nur so Achterbahn fahren. Sie hätte sich sonst bestimmt nicht so aufgeführt….

„Weißt du, es ist nicht so, dass Mac und ich bisher nie Meinungsverschiedenheiten gehabt hätten, aber dieses Mal war es anders. Es war, als hätte sie es auf einen Streit angelegt, ich kann es mir sonst nicht erklären. Und vor allem hat sie keinen Versuch unternommen, sich mit mir zu versöhnen. Sie hat mich einfach fahren lassen.“
„Hm, verstehe… oder eigentlich auch nicht.“ Kate runzelte die Stirn. „Worüber habt ihr euch denn so in die Haare bekommen? Du warst doch nur kurz bei ihr. Wollte sie nicht, dass du wegfährst?“ Sie lachte kurz auf, in der Hoffnung, ihn ein wenig aus seiner Deckung zu locken.
„Du hast es fast getroffen. Sie wollte nicht, dass ich mit DIR fahre…“ Harm sah ihr direkt in die Augen.

Jetzt musste Kate schlucken. „Wie bitte?“ fragte sie entgeistert.
„Sie ist rasend eifersüchtig auf dich, Kate. Sie denkt, dass du noch Interesse an mir haben könntest.“ Eigentlich hatte Harm nicht vorgehabt, dies Kate gegenüber preiszugeben, aber der Alkohol tat sein Übriges, um ihm die Kontrolle über seine Gedanken zu entreißen.
„Wow, damit habe ich nicht gerechnet.“ Verdammt, sie hätte wohl doch etwas diskreter sein müssen. Ganz Unrecht hatte Mac zwar nicht, aber sie hatte nicht vorgehabt, es so offensichtlich werden zu lassen.

„Und du bist aber der Meinung, dass dem nicht so ist, nehme ich an“, fuhr Kate fort. Vielleicht war jetzt die Gelegenheit in Erfahrung zu bringen, ob er noch etwas für sie empfand.
„Natürlich nicht. Das zwischen uns ist doch schon Jahre her und vorbei. Und das weiß Mac auch. Aber sie ist der Meinung, du würdest… naja, mir zu nahe kommen während der Arbeit. Das muss sie sich wohl eingebildet haben. Ich liebe nur sie, aber anscheinend genügt das nicht, um mir zu vertrauen…“ Geknickt ließ Harm wieder den Kopf hängen.
„Und was wäre, wenn es doch so wäre, wenn deine Frau Recht hätte?“ Kate setzte nun zum Frontalangriff über. ‚Jetzt oder nie', schoss ihr durch den Kopf. ‚Wenn du jemals eine Antwort darauf haben willst, dann musst die die Frage wohl oder übel selbst stellen.'

Harm sah sie überrascht an, ihre Worte hatten ihn ganz schön überrumpelt.
„Dann…“ Harm suchte nach den richtigen Worten. „… würde es für mich keinen Unterschied machen. Mac ist die einzige Frau, die ich liebe, und die ich will.“

Nachdem Mac minutenlang mit sich gerungen hatte, griff sie schließlich zum Telefonhörer. Sie wollte sich bei Harm entschuldigen, weil sie sich wie eine Idiotin aufgeführt hatte. Außerdem tat es ihr leid, dass sie ihn vor seiner Abreise nicht richtig verabschiedet hatte. Was, wenn ihm unterwegs etwas passiert wäre? Sie hätte sich ihr Leben lang Vorwürfe gemacht, dass ihre letzten Worte an ihn ein schlichtes „Fahr vorsichtig“ gewesen waren.
Mit zitternden Fingern tippte sie seine Nummer ein und wartete auf das Freizeichen. Doch sie bekam keins.

„The person you are calling is temporarely not available. Please call again later.“

„Verdammt“, schimpfte Harm. Das einzige, was er jetzt wollte, war Mac anzurufen, um ihre Stimme zu hören. Aber ausgerechnet jetzt befand er sich mit seinem Mobiltelefon in einem Funkloch. Frustriert ließ er das Telefon auf den Tisch zurück sinken und trank sein Bier aus.

Enttäuscht ließ Mac den Telefonhörer wieder an seinen Platz sinken. Das geschah ihr ganz recht, dass er nicht mit ihr reden wollte. ‚Gut, dann eben nicht', versuchte sie sich selbst aufzumuntern und widmete sich wieder ihrem Buch. Dummerweise war das aber nicht so einfach wie gedacht, denn ihre Tränen sorgten bald dafür, dass die gedruckten Zeilen vor ihren Augen verschwammen.


Harm und Mac's Haus
Kensington and Chelsea, London
23:32 Uhr Zulu

Erschöpft war Mac irgendwann mit dem Buch in der Hand eingeschlafen. Sie bemerkte nicht, wie sich ein ungebetener Gast, Zutritt ins Haus verschaffte.

Mit leisen Schritten näherte er sich der schlafenden Gestalt, in der Hand eine halbautomatische Pistole mit Schalldämpfer. Ein kaltes Lächeln umspielte seine Lippen, während er sich hinter die seitliche Armlehne des Sofas kniete, und die Waffe in der Nähe von Mac's Schläfe platzierte.

Sarah“, wisperte er leise, beinah zärtlich. „Aufwachen.“
„Harm?“ flüsterte Mac verschlafen und wollte sich aufrichten. Doch ein eisenharter Griff um ihre Schultern verhinderte, dass sie sich bewegen konnte.
„Nein, nicht Harm. Hier ist nur der gute, alte Clark Palmer. Haben Sie mich vermisst?“

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Mac in die Dunkelheit. Schlagartig war sie hellwach. Ihr Atem und ihr Puls beschleunigten sich, doch sie zwang sich zur Ruhe.
„Was wollen Sie, Palmer?“ fragte sie ihn betont gelassen.
„Wir zwei hübschen machen jetzt einen kleinen Ausflug. Und versuchen sie erst gar keine Dummheiten.“

Mac spürte den kalten Lauf der Pistole an ihrer Wange.

„Sie wollen doch bestimmt nicht, dass Ihrem Baby etwas passiert?“


Kapitel 11


Samstag, 22. Oktober 2005
Harm und Mac's Haus
Kensington and Chelsea, London
00:07 Uhr Zulu

Mattie saß mit Ryan Sinclair in dessen Wagen vor dem Haus und konnte sich noch nicht dazu durchringen, hineinzugehen. Sie war gerade viel zu sehr damit beschäftigt, sich von ihm zu „verabschieden“.
Endlich löste sich Ryan atemlos von ihren Lippen.

„Mattie, du musst endlich rein. Dein Dad bringt mich sonst um, wenn er erfährt, dass du zu spät zu Hause warst. Und hoffentlich hat keiner mitbekommen, dass wir … uns geküsst haben.“ Ryan war sichtlich nervös, doch Mattie grinste nur.
„Entspann dich, mein Dad ist schließlich nicht da. Und Mac wird ihm das bestimmt nicht erzählen. Es sind ja nur ein paar Minuten. Außerdem entscheide immer noch ich, wenn ich küsse!“ Sie näherte sich wieder seinem Gesicht, doch Ryan hielt sie sanft auf Distanz.
„Mattie, bitte…! Der Abend mit dir war wunderschön, aber dein Dad kann mir wirklich Schwierigkeiten bereiten, wenn er das mitbekommt. Er ist schließlich mein vorgesetzter Offizier und bald auch noch JAG. Wenn ich nicht aus London versetzt werden will, müssen wir vorsichtig sein, und es etwas langsamer angehen lassen.“

Mattie blickte ihn enttäuscht an und schüttelte verärgert den Kopf.

„Das ist so unfair… da lerne ich endlich jemanden kennen, den ich mag…“ Sie führte den Satz nicht zu Ende, da sich ein dicker Kloß in ihrem Hals gebildet hatte.
„Hey, ich mag dich auch. Sehr sogar…“ Ryan schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. „Wie wär's, wenn wir den Abend fürs erste beenden… und das ganze ein anderes Mal fortführen. Hast du Sonntag schon was vor? London hat einen tollen Zoo…“

Sie sah ihm in die Augen und bei seinem süßen Lächeln konnte sie nicht länger wütend sein. „Sonntag also in den Zoo, ja? Okay…“ Mattie versuchte zu lächeln, was ihr aber noch nicht so recht gelang.
„Das kannst du aber bestimmt besser“, neckte Ryan sie, und tatsächlich brachte sie wieder ein freches Grinsen zustande.
„Okay, ich wird dann mal reingehen. Mac steht wahrscheinlich schon am Fenster und wartet auf mich.“ Sie küsste Ryan noch einmal kurz. „Wegen Sonntag telefonieren wir noch, ja?“
„Na klar. Gute Nacht.“

Mattie stieg aus und sah Ryan noch eine Weile hinterher, bis sein Wagen aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Vergnügt ging sie zur Haustür und schloss auf.

‚Nanu, alles dunkel?' wunderte sie sich beim Hineingehen. „Mac?“ fragte sie leise. War sie etwas schon schlafen gegangen? Eigentlich hatte Mac vorgehabt, auf sie zu warten, damit Mattie ihr von ihrem Date erzählen konnte.
Um Mac nicht zu wecken, verzichtete Mattie darauf, das Licht einzuschalten. Vorsichtig ging sie die Treppe hinauf, darauf bedacht, keinen Lärm zu machen. Leise öffnete sie die Tür zum Schlafzimmer ihrer Eltern, um nach Mac zu sehen. Doch das große Bett war leer. Hastig tastete Mattie nach dem Lichtschalter. Das Bett war nicht nur leer, es sah absolut unbenutzt aus.
„Mac?“ rief sie nun lauter. Der Reihe nach ging Mattie in jedes Zimmer. Doch Mac war nicht da. Unten im Wohnzimmer sah sie sich noch einmal genauer um. Mac konnte sich doch nicht einfach in Luft auflösen, ohne irgendeine Nachricht zu hinterlassen. Und tatsächlich fand sie auf dem Esstisch einen handgeschriebenen Zettel. Mattie erkannte sofort Mac's Handschrift.

„Liebe Mattie,

bin für ein paar Tage verreist, muss über einiges nachdenken. Verzeih mir, dass ich nicht auf dich gewartet habe, es war eine spontane Entscheidung.
Mach dir keine Sorgen, mir geht es gut.
Alles Liebe, Mac“

Verwundert las sich Mattie die paar Zeilen noch einmal durch. Das war gar nicht Mac's Art, einfach so zu verschwinden. Aber andererseits war sie ja schließlich eine erwachsene Frau.

„Wow, dann hab ich ja tatsächlich sturmfreie Bude“, murmelte Mattie erfreut. „Ich könnte für morgen Abend Cassie einladen, und wir machen uns einen Mädchenabend“, dachte sie laut nach. Aber sie würde morgen früh lieber erst noch Harm anrufen und ihn um Erlaubnis fragen. Sicher war sicher. Mit diesem Gedanken im Kopf legte sie sich schlafen.


HM Naval Base
Portsmouth
07:30 Uhr Zulu

Unbarmherzig dröhnte das Alarmgeräusch des Weckers durch Harm's Schlafzimmer. Erschrocken zuckte er zusammen und rieb sich die Schläfen, die ein dumpf pochender Schmerz durchdrang. Für einen kurzen Moment sah er sich orientierungslos um. Aber dann fiel ihm wieder ein, wo er sich befand. Er war ja mit Kate während ihrer Ermittlung auf dem britischen Marinestützpunkt untergebracht worden. Dann erinnerte Harm sich auch wieder an den Grund seiner grauenvollen Kopfschmerzen. Er hatte am gestrigen Abend definitiv das eine oder andere Bier zu viel gehabt. Noch dazu hatte er furchtbar geschlafen. Nicht nur, dass er wegen des Streits mit Mac innerlich aufgewühlt gewesen war, er hatte auch noch Albträume gehabt. Hatte geträumt, dass Mac ihn verlassen wollte.

Mit Mühe setzte Harm sich auf und schwang die Beine aus dem Bett. Eine heiße Dusche würde ihm jetzt bestimmt gut tun. Und anschließend ein starker Kaffee. Kate und er hatte heute noch einiges zu tun. Kate… Dunkel erinnerte er sich an ihr gestriges Gespräch… sie hatte ihm gegenüber so eine merkwürdige Bemerkung fallen lassen. Was wäre, wenn Mac Recht hätte… wenn sie tatsächlich noch Gefühle für ihn hätte. Gestern Abend war er über ihre Frage nur irritiert gewesen, aber heute Morgen…

Harm stützte seine Ellenbogen auf seine Knie und seinen Kopf in seine Hände. Hatte sie ihm gegenüber etwa indirekt zugegeben, noch etwas für ihn zu empfinden? Wenn das so war, hatte er sie mit seiner Antwort vermutlich ziemlich vor den Kopf gestoßen. Verdammt, warum musste nur alles so kompliziert sein? Entnervt rieb er sich mit den Händen übers Gesicht. Schwungvoll stand er schließlich auf, um duschen zu gehen, bereute dies aber schnell wieder, als sein Magen angesichts des zu schnellen Richtungswechsels zu rebellieren begann. Er schaffte es gerade noch rechtzeitig zur Toilette, bevor sein Magen seinen Inhalt von sich gab.

Nachdem sich seine Eingeweide etwas beruhigt hatten, sank Harm erschöpft auf den Boden. ‚Meine Güte, das muss Lichtjahre her sein, dass ich mich aufgrund eines Katers übergeben musste', dachte er verwundert. Wankend stand er auf und begab sich unter die Dusche.


Zur gleichen Zeit
Lagerhalle
Docklands, London

Als Mac das Bewusstsein zurückerlangte, öffnete sie schlagartig die Augen. Benommen setzte sie sich auf und sah sich um. Sie befand sich einer Art Stahlkäfig, etwa zwei mal drei Meter groß und zweieinhalb Meter hoch. Sie saß auf einem Feldbett, daneben ein kleines Tischchen mit einem Tablett darauf. Auf dem Tablett befand sich ein Teller mit zwei belegten Brötchen sowie eine Flasche Wasser. Der Käfig selbst befand in einem nur wenig beleuchteten Lagerraum, soweit sie es beurteilen konnte.
Krampfhaft versuchte sie sich zu erinnern, was in der vergangenen Nacht geschehen war….

„Na schön, was soll ich tun?“ fragte Mac mit zittriger Stimme. Sie wollte ihn eigentlich ihre Aufregung nicht spüren lassen, aber als er ihr Baby erwähnte, war es um Mac's Selbstbeherrschung geschehen. Was mit ihr geschah, war ihr gleichgültig. Aber ihrem ungeborenen Kind durfte einfach nichts widerfahren.
„Als erstes möchte ich, dass Sie einen kleinen Brief für Ihre Adoptivtochter schreiben, Sarah. Sie müsste in wenigen Minuten zurück sein, also beeilen Sie sich besser“, gab Palmer ihr mit kalter Stimme seine Anweisungen.

Unter Palmer's wachsamen Augen stand Mac vom Sofa auf und suchte Papier und einen Stift, um nach seinen Vorgaben die gewünschten Zeilen zu schreiben. Den fertigen Brief platzierte sie auf dem Esstisch.

„Das haben Sie gut gemacht. Und nun ziehen Sie einen Mantel an, damit wir los können. Es ist kalt draußen, Sie möchten sich doch nicht erkälten?“

Angesichts Palmer's fast fürsorglichem Tonfall lief es Mac kalt den Rücken hinunter. Sie wusste zwar, dass er ein Psychopath war, aber was für Spielchen trieb er hier mit ihr? Aber sie gehorchte, ohne Fragen zu stellen. Während sie sich anzog, beobachtete Palmer sie sorgfältig. Er schien sie regelrecht von Kopf bis Fuß zu mustern.

„Sie sind wirklich eine wunderschöne Frau, Sarah, selbst in Ihrem jetzigen Zustand. Kein Wunder, dass mein Freund Harm sich dazu entschlossen hat, Sie zu seiner Frau zu machen.“ Mac sah ihn irritiert an, während Palmer sie angrinste.
„Keine Sorge, ich bin kein Triebtäter. Hätte ich Sie vergewaltigen wollen, dann würden Sie jetzt nicht angezogen vor mir stehen.“ Palmer schien Mac's Gedanken erraten zu haben.
„Aber was wollen Sie dann von mir?“ fragte sie vorsichtig.
„Na was wohl, als Köder natürlich!“
„Wenn Harm wüsste, dass Sie hier sind, meinen Sie nicht, er würde Sie dann auch ohne mich als Köder jagen?“
„Mag sein. Aber wo bleibt denn da der Spaß für mich?“ Er grinste wieder, sah sie dann aber von einer Sekunde zur nächsten grimmig an. „Genug geplaudert, Mrs. Rabb. Auf geht's!“

Palmer zeigte mit seiner Waffe Richtung Tür, und Mac ging gehorsam nach draußen. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, packte Palmer sie mit festem Griff am Arm und drückte ihr die Waffe in die Seite.

„Und jetzt schön still sein und zur anderen Straßenseite rüber“, zischte Palmer ihr zu. Gemeinsam gingen sie auf die andere Seite hinüber und noch ein paar Meter weiter, bis sie einen dunklen PKW erreichten hatten, dessen Türen Palmer mit einer Funkfernbedienung entriegelte. Er öffnete die Tür zur Beifahrerseite und bugsierte Mac ins Fahrzeug.

Während Mac sich anschnallte, holte Palmer unauffällig eine kleine Kunststoffbox aus seiner Jackentasche hervor und öffnete sie. Darin befand sich ein Stofftuch, welches er bereits mit Chloroform präpariert hatte. Ehe Mac reagieren konnte, hatte er ihr das Tuch bereits auf Mund und Nase gepresst, so dass ihre Gegenwehr nur minimal war. Bewusstlos sank ihr Kopf auf ihre Brust. Zum Glück wurde sie vom Sicherheitsgurt im Sitz gehalten.

Palmer steckte das Tuch wieder in die Plastikbox zurück, und schmiss sie auf die Rückbank des Autos. Dann schloss er die Beifahrertür und begab sich selbst zur Fahrerseite, wo er hinter dem Lenkrad Platz nahm und den Wagen anließ. Gut gelaunt schaltete er das Autoradio ein und fuhr los.

„Guten Morgen, Sarah! Wie ich sehe, sind Sie bereits wach.“ Palmer's Stimme erschallte durch den Lagerraum, doch von ihm selbst war nichts zu sehen. Mac blickte nervös von einer Ecke des Raumes zur anderen, doch weit und breit nichts zu sehen. „Oh, wundern Sie sich nicht, dass Sie mich nicht sehen können. Sie hören mich nur durch Lautsprecher. Dafür kann ich Sie sehr gut sehen. Schauen Sie doch mal hoch!“ Palmer lachte leise.

Mac sah nach oben und entdeckte neben einem Lautsprecher auch eine Überwachungskamera.

„Ah, Sie haben mich gefunden! Keine Sorge, ich bin nicht weit weg. Aber so kann ich Sie gut im Auge behalten, Sarah. Ich habe Ihnen übrigens Frühstück hingestellt. Und keine Sorge, das Essen ist nicht vergiftet. Dafür habe ich mir nicht die Mühe gemacht, Sie hier herzubringen. Also, essen Sie ruhig. Sie wollen doch, dass es Ihrem Baby gut geht, nicht wahr?“


HM Naval Base
Portsmouth
08:42 Uhr Zulu

Zwei Kopfschmerztabletten und drei Tassen Kaffee später saß Harm in der Offiziersmesse und studierte noch einmal die Aussagen der Matrosen, die an der Schlägerei beteiligt gewesen waren. Kate wollte sich um 08:45 Uhr mit ihm treffen, um die Details noch einmal durchzugehen. Als sie ihm vorhin kurz über den Weg gelaufen war, hatte sie sich zumindest nichts anmerken lassen, dass sie eventuell wütend auf ihn war. Eine Frau, die sauer auf ihn war, reichte ihm voll und ganz.
Das Klingeln seines Handys riss Harm aus seinen Gedanken.

„Rabb?“ meldete er sich geistesabwesend.
„Hallo Harm, hier ist Mattie!“
„Oh, hi Mattie! Ist alles in Ordnung zu Hause?“ Harm hoffte, etwas von Mac zu hören, wenn sie ihn schon nicht selbst anrief.
„Klar, alles bestens. Ich wollte fragen, ob es okay ist, wenn ich Cassie heute Abend zu mir einlade und sie über Nacht bleibt?“
„Wieso fragst du nicht Mac deswegen?“ fragte Harm überrascht.
„Oh… äh.. sie ist nicht da. Ich dachte, sie hätte dir Bescheid gesagt…“ Nun klang Mattie verwundert.
„Was heißt hier, sie ist nicht da? Mattie, sag mir bitte, was los ist!“
„Als ich gestern nach Hause gekommen bin, war nur eine Nachricht von ihr da. Sie sei ein paar Tage weg, müsste nachdenken, ich soll mir keine Sorgen machen.“
„Und du bist sicher, dass Mac das geschrieben hat?“
„Ja natürlich, ich kenne doch ihre Schrift!“
„Hat sie geschrieben, wohin sie gefahren ist?“
„Nein, tut mir leid. Sie hat dir nichts gesagt, dass sie wegfährt? Ihr habt doch nicht etwa Stress, oder?“
„Naja, wir hatten einen kleinen Streit, bevor ich gefahren bin“, gab Harm drucksend zu.
„Na, sooo klein war der dann wohl doch nicht! Du weißt doch, dass sie sich in ihrem Zustand nicht aufregen soll!“ Mattie klang sichtlich verärgert.

‚Na toll', dachte Harm. ‚Noch eine Frau, die nicht gut auf mich zu sprechen ist.'
„Mattie, hör zu, das ist etwas komplizierter. Okay, lad deine Freundin ein. Und ich werde versuchen, Mac zu finden, ja?“
„Vermassle es ja nicht! Ich mag Mac, weißt du?“
„Ja, das weiß ich. Keine Sorge, das wird schon wieder.“

Harm beendete die Verbindung und legte sein Mobiltelefon wieder weg. ‚Na fantastisch', dachte er seufzend. ‚Erst der Streit mit Mac, und jetzt verschwindet sie einfach. Das ist doch gar nicht ihre Art?' Was die Sache noch schlimmer machte, war die Tatsache, dass er jetzt erst recht nicht wusste, wie er sich auf seine Arbeit konzentrieren sollte. Irgendwie war das heute einfach nicht sein Tag.

„Hey!“ Unbemerkt hatte sich Kate genähert. Harm sah zu ihr hoch und versuchte sich an einem Lächeln.
„Was macht dein Kopf?“ lächelte Kate. Harm meinte, eine gewisse Schadenfreude in ihrem Blick ausmachen zu können.
„Geht schon, danke. Wollen wir anfangen?“
„Es gibt eine Planänderung. Ich bin soeben informiert worden, dass ein Mann in Navy-Uniform, aber ohne Ausweispapiere, tot im Hafen gefunden wurde. Wir sollten uns die Sache mal ansehen.“
„Hat das irgendetwas mit unserem Fall zu tun?“ fragte Harm neugierig.
„Keine Ahnung, um ehrlich zu sein. Aber möglich wäre es.“

Schwerfällig erhob Harm sich von seinem Platz und machte sich mit Kate auf den Weg zum Hafen.


Kapitel 12


Hafengelände
Portsmouth
09:23 Uhr Zulu

Als Harm und Kate am Hafen eintrafen, wimmelte es nur so von Militärpolizei und NCIS-Agenten, die den Tatort nach Spuren absuchten. Sie näherten sich dem abgesperrten Bereich und wurden sogleich von einem jungen Mann angesprochen.

„Sind Sie die JAG-Anwälte, die den Fall untersuchen?“
„Ja. Das ist Commander Pike, ich bin Captain Rabb. Und Sie sind?“ antwortete Harm.
„Special Agent Jenkins, NCIS.“
„Was wissen Sie bisher über den Toten?“ fragte Kate.
„Nicht viel. Männlich, afroamerikanisch, ca. 25 - 30 Jahre alt. Er trägt die Uniform eines Petty Officers Third Class, hat aber keinerlei Papiere bei sich.“ Während Jenkins dies erzählte, führte er Harm und Kate zum Leichnam, der einige Meter weiter mit einem Tuch bedeckt am Boden lag.
„Wird auf einem der Schiffe, die im Hafen liegen, ein Besatzungsmitglied vermisst?“ wollte Harm wissen.
„Wir prüfen das gerade. Parallel dazu lassen wir seine Fingerabdrücke durch den Computer laufen.“ Jenkins bückte sich und hob das Tuch etwas an, damit die beiden einen Blick auf die Leiche werfen konnten.

„Er wurde aus kurzer Entfernung erschossen, direkt ins Herz. Anschließend hat man ihn ins Hafenbecken geworfen“, fuhr er fort.
„Irgendwelche Augenzeugen?“
„Bisher nicht, Captain Rabb. Laut Todeszeitpunkt muss er gestern zwischen 17 und 18 Uhr getötet worden sein. Aber niemand hat etwas gesehen oder auch nur einen Schuss gehört. Vielleicht ist er auch gar nicht hier getötet worden. Wie haben noch zu wenig Spuren, um etwas Konkretes sagen zu können. Wir hoffen, dass wir seine Identität bald festgestellt haben. Dann kommen wir vielleicht weiter.“
„Agent Jenkins, könnten wir von dem Toten ein Bild bekommen? Vielleicht hilft es, wenn wir sein Foto ein wenig herumzeigen“, erwiderte Kate.
„Natürlich, Commander.“ Jenkins ging zu einem anderen Agenten, der Bilder vom Tatort machte, und ließ sich von ihm ein Polaroidfoto des Toten geben. Dieses überreichte er Kate. „Hier, bitte. Irgendwelche Ideen, wo Sie mit der Suche beginnen wollen?“
„Naja, eigentlich sind wir hier, um eine Kneipenschlägerei zu untersuchen“, antwortete sie. „Vielleicht war er darin verwickelt. Wir hören uns mal um.“

Harm und Jenkins tauschten noch ihre Rufnummern aus, um im Falle von Neuigkeiten den jeweils anderen benachrichtigen zu können.

„Ich glaube, das war der erste kooperative NCIS-Agent, der mir untergekommen ist“, grinste Harm, als er und Kate wieder in den Wagen stiegen. Kate schwieg nur.


Spice Island Inn
65 Broad Street, Portsmouth
10:05 Uhr Zulu

„Oh, Sie zwei schon wieder!“ begrüßte Samantha die beiden Navy-Offiziere fröhlich, als diese das Lokal betraten. Samantha war Kellnerin im Spice Island Inn und hatte am Abend der Schlägerei dort gearbeitet.
„Ja, wir schon wieder“, erwiderte Harm freundlich. „Wir hätten da noch eine Frage an Sie.“
„Ich weiß leider nicht mehr, als ich Ihnen schon beim ersten Mal erzählt habe. Aber wenn ich sonst noch etwas für Sie tun kann?“ Samantha warf Harm dabei einen verführerischen Blick zu und lächelte kokett.

„Davon bin ich überzeugt, Ma'am“, mischte sich Kate nun ein und holte das Bild des Toten hervor. „Kennen Sie diesen Mann? War er in den letzten Tagen vielleicht mal hier?“ Sie hielt das Bild Samantha unter die Nase.
„Der kommt mir bekannt vor. Ich glaube der war neulich Abend hier, als die uns den Laden fast zerlegt haben.“
„War der Mann in die Schlägerei verwickelt? Hat er sich vielleicht mit jemandem gestritten?“ fragte Harm nach weiteren Details.
„Also gestritten nicht. Er hat sich mit einigen der Matrosen unterhalten, glaub ich. Und die sind dann plötzlich auf die anderen losgegangen. Danach hab ich ihn nicht mehr gesehen.“
„Danke, Samantha, Sie haben uns sehr weitergeholfen.“
„Jederzeit wieder gern…“, säuselte Samantha, als Harm und Kate schließlich den Pub verließen.

„Sieht so aus, als hätte der mysteriöse Tote doch etwas mit unserem Fall zu tun“, entgegnete Kate auf dem Weg zu ihrem Wagen.
„Yep. Wir sollten uns noch mal mit den Herrschaften unterhalten, die in die Prügelei verwickelt waren. Vielleicht erinnert sich jemand an ihn.“


HM Naval Base
Portsmouth
13:28 Uhr Zulu

„Verdammt, wir drehen uns ihm Kreis!“ Entnervt ließ Harm seinen Kugelschreiber auf den Tisch fallen und klappte die vor ihm liegende Akte zu. Er und Kate saßen in einem Verhörraum auf dem Marinestützpunkt und hatten gerade den letzten Matrosen noch einmal vernommen.
„Okay, fassen wir noch mal zusammen“, versuchte Kate ihren Partner zu beruhigen. „Fast jeder hat diesen Mann am fraglichen Abend gesehen. Ein paar von ihnen haben sogar mit ihm gesprochen. Er hat angeblich einige unschöne Äußerungen der europäischen Matrosen aufgeschnappt, was anscheinend der Grund für die Prügelei war. Womit wir zumindest den Schuldigen hierfür gefunden zu haben scheinen. Aber danach will ihn keiner mehr gesehen haben. Und 36 Stunden später wird er tot im Hafenbecken aufgefunden. Hab ich was vergessen?“

Harm schüttelte den Kopf. „Hast du nicht. Und genau das verwirrt mich. Erst zettelt er eine Prügelei an, und dann macht er sich aus dem Staub? Das macht doch keinen Sinn!“
„Vielleicht hat gerade das jemandem nicht gefallen. Er hat ihn dann verfolgt, es kam vielleicht wieder zum Streit, und dann hat er ihn getötet“, warf Kate ein.
„Möglich. Aber die Prügelei war am Donnerstag, und laut NCIS ist er erst am nächsten Tag gestorben. Was ist in der Zwischenzeit passiert? Warum hat sich der Mörder soviel Zeit gelassen?“
„Wer sagt, dass es Mord war? Kann doch sein, dass sie sich am nächsten Tag zufällig wieder über den Weg gelaufen sind?“
„Und dann hat der Täter rein zufällig eine Waffe bei sich? Nein, da passt irgendetwas nicht.“

In dem Moment klingelte Harm's Handy.

„Rabb?“
„Hier ist Agent Jenkins. Es gibt Neuigkeiten.“
„Wissen Sie, wer unser Toter ist?“
„Ja. Sein Name ist Larry Johnson.“
„Gehört er zu einem der Schiffe?“
„Nein. Und jetzt kommt's. Er ist noch nicht mal Petty Officer. Er war im Marine Corps, hatte zuletzt den Rang eines Private.“
„Er hat sich als Petty Officer ausgegeben? Aber…“
„Sekunde, es wird noch besser. Johnson hat bis vor einem Monat in Fort Leavenworth eine Haftstrafe wegen Körperverletzung abgesessen.“
„Ja und?“
„Er ist von dort geflohen. Aber nicht allein. Ein gewisser Clark Palmer ist mit ihm zusammen abgehauen…“

Harm's Mund wurde augenblicklich staubtrocken, und er glaubte, nicht richtig gehört zu haben.

„Mit wem, sagten Sie?“ fragte er mit einem leichten Zittern in der Stimme.
„Clark Palmer. Kennen Sie den Typen?“
„Ja….“

Ehe Agent Jenkins etwas erwidern konnte, hatte Harm das Gespräch bereits beendet. Zum Glück saß er immer noch, sonst hätten seine Knie jetzt vermutlich ihren Dienst versagt. Kate bemerkte, dass Harm kreidebleich geworden war.

„Ist alles in Ordnung mit dir?“ fragte sie besorgt. „War das Agent Jenkins? Hat er etwas herausgefunden?“
„Jetzt macht alles Sinn…“, murmelte er vor sich hin und sah Kate an, als habe er gerade einen Geist gesehen.
„Was macht Sinn? Harm, rede mit mir!“ Kate stand von ihrem Stuhl auf und eilte um den Tisch herum zu Harm. Sie kniete sich neben ihn. Doch Harm starrte einfach nur gerade aus. An seinen Augen erkannte sie, dass sein Gehirn gerade auf Hochtour arbeitete. „Was hast du gerade erfahren?“ In Kate machte sich eine böse Ahnung breit, doch sie durfte sich nichts anmerken lassen.

Harm wollte von seinem Stuhl aufspringen, doch Kate hielt ihn am Arm fest. „Verdammt, was ist los?“
Endlich sah Harm sie an.

Das alles hier war kein Zufall. Das war alles geplant, da bin ich mir sicher.“
„Geplant? Von wem denn, und wieso? Ich verstehe kein Wort.“
„Der Tote, Larry Johnson, ist vor einem Monat aus Leavenworth geflohen. Er war aber nicht allein. Er ist mit einem Mann namens Clark Palmer geflohen. Ich bin mir sicher, Palmer hat Johnson benutzt, um die Schlägerei zu inszenieren. Und anschließend hat er ihn umgebracht.“
„Aber warum sollte er das tun?“ Verdammt, dachte Kate. Wer hatte es nur verschlampt, ihr ein Bild von diesem Johnson mit ihn die Unterlagen zu legen? Natürlich wusste sie, dass Palmer nicht allein abgehauen war. Aber so hatte sie keine Ahnung gehabt, wie Johnson aussah, sonst hätte sie eher ihre Schlüsse daraus ziehen können. Und nun hatte Harm dummerweise zu früh von Palmer's Flucht erfahren.
„Palmer wollte mich aus London weglocken. Er hat es seit Jahren auf mich abgesehen. Aber warum hat er sich die Mühe gemacht, mich hierher zu bekommen? Warum hat er sich nicht in London gezeigt, wo er doch so gut über mich informiert ist….“

Nachdem Harm den letzten Gedanken ausgesprochen hatte, weiteten sich seine Augen plötzlich, und er wurde wieder kreidebleich.

„Mac…“, flüsterte er heiser.
Hektisch holte er wieder sein Handy hervor und tippte Mac's Mobilfunknummer ein. Aber er bekam keine Verbindung.
„Kate, wir müssen sofort zurück nach London. Mattie sagte, Mac hätte eine Nachricht hinterlassen, dass sie ein paar Tage weg wolle. Aber das glaube ich jetzt nicht mehr…“

Kate nickte nur. In Rekordzeit hatten sie ihre Sachen gepackt, und sie und Harm machten sich auf den Weg zurück nach London.


Liebe Grüsse Petra

Kalorien sind kleine Tierchen, die nachts die Kleidung enger nähen.

 
Petra-Andreas
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RE: Alte Freunde - Alte Feinde von Inque

#5 von Petra-Andreas , 14.05.2007 23:02

Harm und Mac's Haus
Kensington and Chelsea, London
16:42 Uhr Zulu

Endlich hatten Kate und Harm ihren Zielort erreicht. Kate hatte unterwegs so ziemlich jedes Geschwindigkeitslimit überschritten, aber zum Glück waren sie in keine Polizeikontrolle geraten. Ihr war bei ihrem eigenen Fahrstil auch nicht ganz wohl gewesen, aber immerhin hatte sie Harm in dessen psychischer Verfassung davon abhalten können, selbst zu fahren. So hatte er nur die ganze Zeit über wie versteinert auf dem Beifahrersitz gesessen und aus dem Fenster gestarrt.

Kaum war der Wagen zum Stillstand gekommen, sprang Harm auch schon heraus und lief zur Haustür. Kate hatte einige Mühe, ihm zu folgen. Harm schloss die Tür hektisch auf und stürmte dann hinein.
Eine verdutzte Mattie saß mit ihrer Freundin Cassie auf dem Sofa und starrte ihn verwundert an.

„Hi Harm! Ich hab dich gar nicht so früh zu Hause erwartet“, begrüßte sie ihn.
„Mattie, wo ist der Brief, den Mac hinterlassen hat?“ fragte er sie außer Atem.
„Auf dem Esstisch, wieso?“ Mattie warf Cassie einen entschuldigenden Blick zu, doch die zuckte nur mit den Schultern.

Inzwischen hatte auch Kate das Haus betreten. „Hi, ich bin Kate Pike. Du musst Mattie sein?“ stellte sie sich vor.
„Ja, hallo. Wissen Sie, was hier vor sich geht?“ fragte sie Kate leise.
„Komplizierte Geschichte. Entschuldigt mich bitte.“

Kate ging zu Harm hinüber, der immer noch mit Mac's Brief in der Hand dastand. Als sie sich ihm näherte, blickte er zu ihr hoch.

„Er muss sie gezwungen haben, dass hier zu schreiben. Da bin ich mir sicher“, flüsterte er ihr leise zu, damit die Mädchen nichts mitbekamen.
„Und wenn sie doch nur für ein paar Tage verreist ist?“ erwiderte Kate ebenso leise.
„Das werden wir gleich feststellen.“

Mit diesen Worten eilte Harm nach oben ins Schlafzimmer. Kate beobachtete, wie er den Kleiderschrank und sämtliche Schubladen durchsuchte. Dann rannte er kurz ins Bad und kam ebenso schnell wieder heraus.

„Sie hat nichts eingepackt, Kate! Keine Kleidung, keine Unterwäsche. Noch nicht mal eine verfluchte Zahnbürste!“ schrie er verzweifelt. Sein Kopf war hochrot vor Aufregung, und einige Tränen der Wut und Verzweiflung liefen ihm die Wangen hinunter, die er jedoch hektisch wegwischte.
Kate dagegen war weiß wie eine Kalkwand geworden. Sie wandte den Blick von ihm ab und ließ sich langsam auf das Bett sinken.

„Damit haben wir nicht gerechnet… damit haben wir einfach nicht gerechnet…“, flüsterte sie kaum hörbar. Harm jedoch hatte sie gehört.
„Was meinst du damit, ihr habt nicht damit gerechnet? Wer zum Teufel ist ‚wir'?“ fragte er entsetzt.

Kate hob den Kopf und sah ihn an. In ihren Augen glitzerten Tränen.
„Es tut mir so leid“, sagte sie mit erstickter Stimme. „Das wollte ich nicht…“
„Kate, sag mir sofort, was du damit zu tun hast! Bitte…“, flehte Harm sie an. Er setzte sich neben sie und blickte in ihre erstarrten Augen.
„Harm, ich muss dir etwas beichten…“, begann sie leise.
„Ich höre?“
„Ich arbeite für den NCIS und war nur zur Tarnung wieder bei JAG. Man hatte mich auf dich angesetzt, weil man gehofft hatte, Palmer würde sich bei dir melden. Und dann hätten wir ihn aufspüren können.“

Harm sprang wieder auf. „Du hast die ganze Zeit gewusst, dass Palmer auf freiem Fuß ist, und hast mir nichts gesagt??“
„Ich durfte es nicht, Harm“, versuchte Kate zu erklären. „Palmer durfte nichts davon erfahren, dass wir an dir dran sind.“
„Und was ist mit meiner Familie? Hat der NCIS allen Ernstes geglaubt, Palmer würde sich direkt auf mich stürzen und meine Familie in Ruhe lassen?“

Harm lief im Schlafzimmer auf und ab, wie ein Tiger im Käfig. Plötzlich entlud sich seine aufgestaute Wut, indem er mit der Faust auf den Kleiderschrank einschlug.

„Harm, wenn er Mac wirklich hat, dann müssen wir den NCIS verständigen, damit die uns Verstärkung schicken“, redete Kate auf ihn ein.
„Einen Teufel wirst du, Kate! Wenn die hier antanzen, dann kann ich Mac auch gleich selbst umbringen!“
„Hast du eine bessere Idee? Du weißt doch noch nicht mal, wo Palmer sich versteckt hält.“
„Er meldet sich schon, keine Sorge. Und bis dahin schlage ich vor, dass du gehst…“ Harm sah sie an, und in seinen Augen funkelten nicht nur Wut und Sorge, sondern auch der blanke Hass. Und sie konnte es ihm noch nicht einmal verübeln.
„Harm, ich könnte dir doch helfen?“ fragte sie leise.
„Du hast schon genug getan. Geh einfach….!“

Zögernd stand Kate auf und straffte ihre Uniform. Sie warf Harm noch einen besorgten Blick zu, der nun steif aus dem Fenster starrte, und verließ das Zimmer.


Kapitel 13


Harm und Mac's Haus
Kensington and Chelsea, London
17:05 Uhr Zulu

‚Okay, Kumpel, als erstes musst du dich beruhigen. Wenn du in Panik gerätst, ist das das Letzte, mit dem du Mac helfen kannst.'

Harm atmete ein paar Mal tief durch, bis er sich einigermaßen wieder unter Kontrolle hatte. Als erstes brauchte er eine Waffe. Er ging zu seinem Nachtisch hinüber und griff in die oberste Schublade. Dort bewahrte er in der hintersten Ecke eine halbautomatische Pistole für Notfälle auf. Und dies hier war definitiv ein Notfall. Er bestückte die Waffe mit einem vollen Magazin Patronen und steckte sie zusammen mit zwei weiteren Magazinen ein.

„Harm? Was ist los?“
Erschrocken drehte sich Harm zur Tür um. Mattie stand dort und sah ihn verängstigt an.
„Wofür brauchst du die Waffe? Und warum ist Commander Pike eben so schnell gegangen?“

Harm ließ sich auf das Bett sinken und winkte Mattie zu sich. Zögernd nahm sie neben ihm Platz.

„Ist deine Freundin weg?“ fragte er und starrte dabei auf seine Füße.
„Ja. Ich dachte, es wäre wohl besser, wenn sie wieder geht. Verrätst du mir endlich, was hier vor sich geht?“

Harm atmete tief durch, griff nach Mattie's Hand und sah ihr dann ins Gesicht.

„Mattie…“, begann er langsam. „Es ist etwas passiert. Allem Anschein nach wurde Mac entführt…“

In Mattie's Augen schimmerten Tränen, und sie drückte seine Hand fester.

„Aber wieso? Wer?“ fragte sie mit brüchiger Stimme.
„Wie es aussieht, hat sie jemand entführt, der meinetwegen im Gefängnis war. Er hat bereits mehrmals versucht, mich zu töten, ist aber bisher immer gescheitert. Aber jetzt hat er Mac…“
„Was ist das für ein Typ? Wird er ihr wehtun?“

Harm ließ Mattie's Hand los und fasste sie stattdessen an den Schultern.

„Hör mir jetzt genau zu. Dieser Mann ist sehr gefährlich, mehr kann ich dir momentan nicht sagen. Aber ich muss dich von hier wegbringen. Ich kann mich nicht darauf konzentrieren, Mac zu finden, wenn ich mir auch um dich Sorgen machen muss.“
„Und wo soll ich so lange hin?“ Mattie sah ihn ängstlich an.
„Lass mich kurz nachdenken…“ Harm's Blick schweifte zur Seite, und Mattie konnte förmlich sehen, wie es in seinem Gehirn arbeitete. „Lass uns runter gehen“, sagte er schließlich und schob Mattie zur Tür hinaus und hinunter ins Wohnzimmer.

Harm schnappte sich das Telefon und wollte eben wählen, als er plötzlich wieder innehielt und den Hörer zurücklegte. Stattdessen angelte er sein Handy aus der Uniformjacke.
„Das Telefon könnte angezapft sein“, antwortete Harm, als er Mattie's fragenden Blick sah. „Komm mit nach draußen!“ Hastig schob Harm sie zur Haustür hinaus.
„Und wozu war das jetzt gut?“ fragte sie skeptisch und schlang die Arme um ihre Schultern, da es recht ungemütlich und kühl draußen war.
„Ich kann das Risiko nicht eingehen, dass er unser Haus verwanzt hat.“

Harm tippte eine Nummer in sein Handy und trat unruhig von einem Bein aufs andere, da niemand abhob.
„Verdammt, nicht zu Hause!“ schimpfte er. „Mattie, hast du die Handynummer von Sinclair?“
„Ja, wozu..?“
„Gib sie mir einfach, ich erkläre dir das später!“ unterbrach er sie ungeduldig.
Mattie kramte in ihrer Hosentasche und beförderte einen zerknitterten kleinen Zettel ans Licht. Harm wählte erneut.

„Sinclair?“ meldete sich der Petty Officer nach dem zweiten Klingeln.
„Hier ist Captain Rabb! Sinclair, wo stecken Sie?“ brüllte Harm lauter ins Telefon als beabsichtigt.
„Unterwegs, Sir. Ich bin verabredet. Warum fragen Sie?“ fragte dieser sichtlich irritiert.
„Ich brauche Ihre Hilfe. Können Sie Ihre Verabredung absagen?“ erwiderte Harm deutlich ruhiger.
„Ist das ein Befehl, Sir?“
„Ich hoffe nicht, dass ich es Ihnen befehlen muss, Petty Officer. Es geht um meine Tochter, sie ist möglicherweise in Gefahr.“
„Ich mache mich sofort auf den Weg, Sir!“
„Nein, kommen Sie nicht zu uns. Wir treffen uns im JAG-Büro.“
„Aye, Sir!“

Harm steckte sein Mobiltelefon wieder weg und sah Mattie ernst an.
„Ich möchte, dass du jetzt nach oben gehst und ein paar Sachen einpackst. Beeil dich, ja?“ Harm warf ihr einen so sorgenvollen Blick zu, dass Mattie erschrak. So besorgt hatte sie ihn noch nie gesehen. Aber sie tat wie ihr geheißen und verschwand im Haus.

Harm blieb vor der Tür stehen und sog tief die kühle Luft in sich ein. Es wurde bereits dunkel, und ein Schleier aus feuchter Luft breitete sich über der Stadt aus. Das ganze kam ihm wie ein nie enden wollender Albtraum vor. Würde er denn niemals Ruhe vor Palmer haben? Vermutlich erst, wenn er ihn eigenhändig getötet hatte. Aber wenn dies der Preis für die Sicherheit seiner Familie war, so war er gern bereit, ihn zu zahlen.

Zehn Minuten später kam Mattie wieder heraus. Sie trug nun eine dickere Jacke und hatte ihren Rucksack über die Schulter gehängt.
„Wir können“, sagte sie nur und blickte zu Harm hinauf. Dieser nickte stumm, und beide bestiegen das JAG-Dienstfahrzeug, welches noch vor dem Haus parkte. Eine Sekunde lang dachte Harm daran, wie Kate wohl von hier weggekommen war, er verdrängte diesen Gedanken aber schnell wieder. Momentan hatte er weiß Gott größere Sorgen.


Lagerhalle
Docklands, London
17:23 Uhr Zulu

„Palmer?“ Mac's Stimme hallte durch den Raum, als sie den Namen ihres Entführers rief. Sie wartete einige Augenblicke, doch keine Reaktion. „Palmer!“ rief sie erneut. Diesmal hatte sie mehr Erfolg.
„Ich bin da. Was wollen Sie?“ drang Palmer's Stimme blechern aus den Lautsprechern.
„Ich hätte da ein kleines Problem, körperlicher Natur…“, druckste Mac herum. Ihr war es sehr unangenehm, dieses Thema anzusprechen, doch ihr Körper machte nicht mehr mit.
„Und das wäre was, Sarah?“ fragte Palmer etwas belustigt.
„Ich… ich muss mal. Sie erwarten doch wohl hoffentlich nicht, dass ich mich einfach in eine der Ecken hocke. Mit meinem Bauch wäre das sowieso kaum möglich.“ Mac versuchte, möglichst sachlich zu klingen, doch dies gelang ihr nicht so richtig.
„Für diesen Fall habe ich vorgesorgt. Ich bin ja kein Unmensch….“, lachte er. „Sehen Sie unter dem Bett nach.“

Mac stand vom Feldbett auf und bückte sich, so gut es ging, um darunter schauen zu können. Tatsächlich befand sich ein Gegenstand darunter. Skeptisch begutachtete sie das „Ding“.
‚Fantastisch', dachte sie. ‚Eine Campingtoilette.' Sie schüttelte den Kopf und verwarf den Gedanken, ob sie lachen oder weinen sollte. ‚Okay, Marine, du hast schon schlimmere Situationen überstanden. Und wenn ich hier lebend rauskommen sollte, wird das hier nicht mehr als eine unangenehme Erinnerung sein.'

Da sie jedoch keinesfalls exhibitionistisch veranlagt war, zog sie ihren Mantel wieder an, um sich zumindest ein wenig vor neugierigen Blicken zu schützen, während sie ihr Geschäft verrichtete.
Als sie fertig war, nahm sie wieder auf dem Bett Platz. Obwohl Mac den Tag bisher damit verbracht hatte, nur zu liegen oder zu sitzen, war sie erschöpft. Doch nicht nur ihr körperlicher Zustand machte sie fertig. Schlimmer noch war die Ungewissheit, was Palmer konkret mit ihr vorhatte. Benutzte er sie nur als Köder, oder würde er sie in jedem Fall töten? Sie wusste es einfach nicht, und Palmer hatte sich bisher auch weitestgehend bedeckt gehalten. Er hatte sich auch noch nicht wieder persönlich gezeigt, hatte ihr nur hin und wieder über die Lautsprecher zu verstehen gegeben, dass er sie nach wie vor beobachtete.

In Mac's Bauch regte es sich; ihr Baby hatte anscheinend beschlossen, ausgerechnet jetzt ein paar Turnübungen zu machen. Aufgrund der Heftigkeit der Stöße fühlte es sich allerdings eher an, als ob das Ungeborene gegen irgendetwas protestieren wollte. Mac versuchte tief durchzuatmen, um die Tritte etwas erträglicher zu machen. Beruhigend strich sie mit ihrer Hand über den Bauch.
„Schscht“, flüsterte sie. „Daddy wird uns hier schon rausholen. Ganz bestimmt, mein Kleines.“


Naval Legal Service Office
7 North Audley, London
17:56 Uhr Zulu

Als Harm mit Mattie im JAG-Büro eintraf, war Petty Officer Sinclair bereits eingetroffen und wartete auf sie am Eingang des Gebäudes. Er salutierte, als Harm aus dem Wagen ausgestiegen war und sich ihm näherte.
„Lassen Sie uns reingehen, Petty Officer!“ befahl Harm nur knapp, und alle drei betraten das Gebäude.

Um diese Zeit waren die meisten Büros geschlossen, nur wenig Personal hatte an diesem Samstagabend noch Dienst oder arbeitete an einem Fall. Harm führte Mattie und Sinclair zu seinem Büro und schloss die Tür hinter ihnen. Sinclair warf Mattie einen fragenden Blick zu, doch Harm beendete die Stille und sprach ihn an.

„Sie wundern sich sicherlich, was das Theater hier zu bedeuten hat, Petty Officer.“<
„Ich bin sicher, Sie werden es mir gleich erzählen, Sir.“
„Die Sache sieht folgendermaßen aus…“, begann er, doch Harm wurde durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen.

Überrascht drehte er sich um und wollte gerade öffnen, als die Tür bereits aufging. Admiral Wilson stand im Türrahmen und sah ihn verwundert an. Harm und Sinclair nahmen augenblicklich Haltung an.

„Rühren! Captain Rabb, ich habe mich schon gewundert, wieso in Ihrem Büro Licht brennt.“
„Sie möchten sicherlich wissen, warum ich nicht in Portsmouth bin, Sir. Aber ich kann das erklären.“

„Nicht nötig. Commander Pike rief mich vorhin an und erzählte mir von Ihrem Verdacht. Ich hoffe, Sie haben jetzt keine Dummheit vor, Captain?“
Harm antwortete auf die Frage seines CO nicht, sah ihn nur mit ernstem Blick an.

„Verstehe“, nickte dieser nur.
„Verzeihung, Sirs, aber würde mir jetzt bitte jemand erklären, warum ich hier bin?“ mischte sich nun PO Sinclair in die Unterhaltung mit ein.
„Natürlich, Petty Officer, Entschuldigung“, antwortete Harm. „Alles deutet daraufhin, dass meine Frau von einem Kriminellen namens Clark Palmer entführt wurde. Er war früher beim CIA tätig und ist extrem gerissen und gefährlich. Vermutlich benutzt er meine Frau als Köder, um an mich heranzukommen. Ich benötige Ihre Hilfe, um meine Tochter in Sicherheit zu bringen.“
„Was soll ich tun, Sir?“

Harm zog seine Geldbörse aus der Uniform und zog ein paar Geldscheine heraus, die er Sinclair reichte.
„Hier ist etwas Geld. Fahren Sie mit Mattie aus London heraus und nehmen Sie sich irgendwo in einem kleinen Hotel Zimmer. Je abgelegener, desto besser. Zahlen Sie bar und benutzen Sie einen falschen Namen. Palmer darf nicht auch noch meine Tochter in die Finger bekommen.“
„Verstanden, Sir.“
„Haben Sie eine Waffe, Sinclair?“
„Ja, in meinem Schreibtisch. Ich hole sie gleich.“ Sinclair verließ kurz das Büro, um zu seinem Schreibtisch zu gehen. Mattie sah ihm ängstlich nach.

„Muss das wirklich sein, Dad?“ fragte sie Harm. „Mir gefällt das alles nicht.“
„Mir auch nicht, Mattie. Ich wünschte, mir würde eine bessere Lösung einfallen, als ihn da mit rein zuziehen. Aber leider weiß ich keine.“ Harm ging auf Mattie zu und nahm sie in den Arm. „Ich weiß, dass das für dich keine leichte Situation ist, Kleines, aber bei ihm bist du sicherer als wenn du hier bleibst.“
„Ihr Vater hat Recht, Mattie“, pflichtete Admiral Wilson ihm bei.

Mattie löste sich ein wenig von Harm und sah ihn an. Tränen liefen ihr Gesicht hinunter.
„Versprich mir, dass du sie heil wieder nach Hause bringst“, schluchzte sie. „Ich habe schon eine Mutter verloren.“
Harm drückte sie wieder an sich und küsste sie auf die Stirn. „Das verspreche ich dir, Mattie.“
„Ich wäre dann soweit, Sir“, unterbrach Petty Officer Sinclair die drückende Stille.
Mattie ließ Harm los und ging zu Sinclair hinüber. Dieser nahm sofort beschützend ihre Hand. Sie sah noch einmal zu ihrem Vater und entfernte sich dann mit dem Petty Officer.


Kapitel 14


Naval Legal Service Office
7 North Audley, London
18:12 Uhr Zulu

„Was haben Sie nun vor, Captain?“ Admiral Wilson sah Harm fragend an.
„Um ehrlich zu sein, ich habe nicht die geringste Ahnung, Sir“, antwortete dieser resigniert. „Ich weiß, dass Palmer irgendwo da draußen ist und meine Frau in seiner Gewalt hat. Aber er könnte überall sein. Ich habe keinerlei Anhaltspunkt, wo er sich aufhalten könnte.“
„Keine gute Ausgangsposition. Ich habe mir nach Commander Pike's Anruf allerdings erlaubt, eine Fangschaltung sowohl für Ihr Handy als auch für Ihren Dienstanschluss und Ihre private Nummer einrichten zu lassen. Nachdem, was ich über diesen Palmer erfahren habe, ist davon auszugehen, dass er sich bei Ihnen melden wird.“
„Sir, haben Sie gewusst, dass der Commander für den NCIS arbeitet?“ fragte Harm seinen CO.
„Ja, Captain. Ich wurde aber zu Stillschweigen verdonnert, um den Einsatz von Commander Pike nicht zu gefährden. Es tut mir leid, dass es soweit gekommen ist, Captain. Hätte ich diese Entwicklung auch nur geahnt, ich hätte niemals meine Zustimmung zu dieser ganzen Aktion gegeben.“
„Ich verstehe, Sir. Hätte ich nur gewusst, dass Palmer auf freiem Fuß ist, dann…“

„…hättest du deine Familie zu Hause eingesperrt, um sie zu beschützen?“ unterbrach Kate ihn, die langsam Harm's Büro betrat. „Du weißt genau, dass Mac da nicht mitgespielt hätte“, ergänzte sie leise.

Harm sah zu ihr hinüber. Seine anfängliche Wut Kate gegenüber hatte sich wieder einigermaßen gelegt.

„Vermutlich hast du Recht“, seufzte er und fügte hinzu: „Trotzdem gefällt es mir nicht, dass diese Information vor mir geheim gehalten wurde.“
„Es ist mir auch nicht leicht gefallen, glaub mir. Ich habe nur meine Arbeit gemacht, Harm.“
Harm nickte leicht. „Ich weiß.“
„Kann ich dir irgendwie helfen?“ fragte Kate.
„Momentan wüsste ich nicht wie. Es sei denn, der NCIS hat eine Spur, wo Palmer sich aufhält.“
Kate schüttelte den Kopf. „Leider nicht. Es ist mir unbegreiflich, wie der Kerl unbemerkt durch sämtliche Sicherheitsbarrieren schlüpfen konnte.“

„Das war schon immer seine Spezialität. Aber der NCIS war wohl der Meinung, Palmer bedroht mich ein bisschen, und schon könnt ihr ihn schnappen. Dummerweise hat der Mistkerl jetzt meine Frau!“ Harm's Stimme war schlagartig laut geworden und hallte durch das gesamte JAG-Büro.
„Captain… Harm… versuchen Sie, Ruhe zu bewahren. Die Schuld dem NCIS in die Schuhe zu schieben, bringt Sie jetzt auch nicht weiter“, versuchte Admiral Wilson ihn zu beruhigen.
„Sir, ich war noch nie jemand, der in einer Gefahrensituation die Hände in den Schoß legt. Doch genau dazu bin ich momentan gezwungen. Ich weiß nicht, wo meine Frau sich aufhält oder ob sie überhaupt noch am Leben ist. Und ich kann nichts tun, um daran etwas zu ändern. Bei allem Respekt, aber ich glaube nicht, dass Sie mir in dieser Lage vorschreiben können, wie ich mich zu fühlen habe.“

Harm blickte seinen Vorgesetzten mit ernster Miene an. Als der Admiral daraufhin nichts erwiderte, ließ Harm sich auf den nächstbesten Stuhl fallen und vergrub sein Gesicht in den Händen. Von seiner anfänglichen Energie war nichts mehr übrig geblieben. Seine Hilflosigkeit, die er sich mittlerweile eingestehen musste, gepaart mit der Ungewissheit, wie es seiner Sarah ging, zerrte an seinen Nerven und ließ ihn wie ein Häufchen Elend in sich zusammensacken.
Wilson winkte Kate aus dem Büro heraus, und beide begaben sich stillschweigend in dessen Räume.

„Nun Commander, wie ist die weitere Vorgehensweise des NCIS?“ Admiral Wilson verschränkte seine Arme vor der Brust und sah Kate besorgt an.
„Derzeit wird untersucht, inwieweit wir die Spur von Larry Johnson, dem Mann, den Palmer mutmaßlich in Portsmouth getötet hat, zurückverfolgen können. Eine der Wachen des Stützpunktes konnte sich erinnern, ihn in der Nähe der Einfahrt in einem Fahrzeug gesehen zu haben. Dieses Fahrzeug wird zurzeit gesucht. Ansonsten haben wir leider keine weitere Spur. Wir erhoffen uns neue Erkenntnisse, falls Palmer sich meldet.“
„Das ist nicht sehr viel, Commander. Und spricht vor allem nicht gerade für Ihre Behörde…“

Kate wollte zu einem Widerspruch ansetzen, ließ es dann aber bleiben. Letztendlich hatte Admiral Wilson nicht Unrecht. Und außerdem sollte man mit einem Admiral nicht streiten.


Roslin Hotel
Thorpe Esplanade, Southend-on-Sea
21:35 Uhr Zulu

„Ich glaube nicht, dass dein Vater gemeint hat, wir sollen uns EIN Zimmer nehmen, Mattie.“ Petty Officer Ryan Sinclair sah Mathilda Rabb skeptisch an, während sie in ihrem Rucksack nach ihrer Zahnbürste kramte.
„Mag sein“, erwiderte Mattie. „Aber erstens möchte ich nicht alleine sein. Und zweitens: wie sollst du mich denn beschützen, wenn ich im Nebenzimmer bin?“
„Naja, da hast du wohl Recht. Dafür haben wir aber nur ein Bett. DAS sollten wir ihm wohl nicht gerade auf die Nase binden“, lächelte er nun. Trotz der angespannten Situation versuchte er einen kleinen Witz, um Mattie aufzuheitern. Während ihrer Autofahrt in Richtung Küste war sie ziemlich still gewesen und hatte die meiste Zeit nur schweigend aus dem Fenster gesehen.

Mattie hatte den gesuchten Gegenstand inzwischen ausfindig gemacht und war im Bad verschwunden. Ryan beschloss daher, es sich auf dem französischen Bett gemütlich zu machen. Er zog jedoch nur seine Schuhe aus, die restliche Kleidung behielt er an. Mattie sollte nur keinen falschen Eindruck von ihm bekommen. Seine Waffe platzierte er griffbereit auf dem kleinen Nachttisch auf seiner Seite des Bettes. Anschließend schnappte er sich die Fernbedienung des Fernsehers, die dort bereits gelegen hatte, und schaltete ihn ein. Er zappte sich durch die verschiedenen Programme, bis er schließlich bei einer Wiederholung der Serie „Quantum Leap“ hängen blieb.

„Was schaust du dir denn da an?“ fragte Mattie neugierig, als sie aus dem Bad zurückkam.
„Das war als Kind meine absolute Lieblingsserie. Es geht um einen Wissenschaftler, der mit Zeitsprüngen experimentiert. Dabei springt er immer in die Körper fremder Menschen und korrigiert Dinge, die dort falsch gelaufen sind. Das Problem ist nur, dass er den Weg in seine eigene Zeit nicht zurückfindet.“
„Klingt ja schräg.“ Sie schaute stirnrunzelnd auf den Fernseher, beschloss dann aber, ebenfalls auf dem Bett Platz zu nehmen.
„Wenn du das nicht sehen möchtest, können wir auch was anderes schauen. Oder ich kann den Fernseher auch wieder ausschalten. Du musst es nur sagen.“
„Ausschalten wäre gut. Mir ist gerade nicht nach fernsehen.“

Augenblicklich schaltete Ryan den Fernseher wieder aus und legte die Fernbedienung zur Seite.

„Danke“. Mattie schenkte ihm ein dünnes Lächeln und rutschte etwas näher an ihn heran. Automatisch legte Ryan seinen Arm um sie und drückte sie sanft an sich. Mattie schmiegte ihren Kopf an seine Brust und schloss die Augen. Für einen kurzen Augenblick genoss sie einfach nur seine Nähe, bevor die Angst um Mac jegliches andere Gefühl aus ihren Gedanken verdrängte.

„Ich hoffe so sehr, dass mein Dad sie findet“, flüsterte sie.
„Das wird er bestimmt“, versuchte Ryan sie zu beruhigen.
„Aber wenn ihr doch etwas passiert…“
„Mattie, an so was darfst du nicht mal denken!“ sagte er leise, aber bestimmt.
„Ich wünschte, das wäre so einfach…“
„Du hängst sehr an ihr, oder? Ich meine, dafür dass sie nicht deine leibliche Mutter ist.“

Mattie nickte, während sie mit den Tränen kämpfte.

„Harm konnte ich leicht als meinen Vater ansehen, da ich zu meinem richtigen Vater schon lange keine richtige Beziehung mehr hatte. Aber meine Mom habe ich sehr geliebt und sie lange vermisst. Anfangs war Mac mehr wie eine gute Freundin, die Frau meines Vaters halt. Aber sie war immer für mich da, hat mich sogar gegen ihn verteidigt, als…“ Und nun huschte ein kleines Lächeln über ihr Gesicht. „… als Dad erfahren hat, dass ich dich mag.“ Dann wurde sie wieder ernst. „Wenn es sie nicht mehr gibt, habe ich zum zweiten Mal eine Mutter verloren. Und viel schlimmer noch: mein Vater verliert die Frau, die er schon seit Jahren liebt und mit der er endlich glücklich ist“, sagte sie mit brüchiger Stimme. „Und das Baby, das sie sich so sehr gewünscht haben….“ Mattie hatte nun endgültig die Kontrolle über ihre Gefühle verloren, und die Tränen begannen, ihre Wangen hinunterzukullern.

Hilflos drückte Ryan sie etwas fester an sich. Sie festzuhalten und bei ihr zu sein war das einzige, was er derzeit zu tun vermochte.


Lagerhalle
Docklands, London
21:57 Uhr Zulu

„Schön, dass Sie noch wach sind. Dann muss ich nicht so unhöflich sein, Sie zu wecken.“
Mac setzte sich auf dem Feldbett auf, als sie sah, dass Clark Palmer sich ihrem Gefängnis näherte.

„Sparen Sie sich das Freundlichkeitsgetue, Palmer. Warum sind Sie hier?“ Mac ahnte, dass er nicht nur hier war, um zu sehen, wie es ihr ging. Schließlich hatte er sich den Tag über immer nur kurz blicken lassen, um ihr etwas zu essen und Wasser zu bringen. Und das machte ihr Angst.
„Ich muss Sie jetzt verlegen, Sarah. Also bitte keine Dummheiten.“ Palmer richtete seine Waffe auf sie, während er mit der anderen Hand einen Schlüssel hervorholte und langsam die Tür zum Käfig aufschloss.

Als die Tür offen stand, winkte er Mac mit seiner Waffe heraus. Zögernd folgte sie seiner Anweisung und ging hinaus. Palmer packte sie fest am Arm und drückte ihr die Waffe wieder an den Bauch. Wortlos schob er sie seitlich neben sich her. Palmer führte Mac aus dem Lagerraum hinaus, eine Treppe hinauf und durch mehrere kleinere Zwischenräume, bis sie wieder einen größeren Raum erreicht hatten. Dieser Raum war heller erleuchtet als die vorherigen und mit allerhand Technik vollgestopft. Mehrere Bildschirme reihten sich aneinander über einem riesigen Schaltpult. ‚Das hier muss Palmer's Hauptquartier sein, von wo aus er meine Entführung koordiniert hat', dachte Mac.

Palmer jedoch schob Mac in die hintere Ecke, in der ein großer metallener Kasten lag. Er musste knapp zwei Meter lang sein, etwa einen Meter breit und einen Meter hoch. Mit ihm schien eine Sauerstoffflasche durch einen dünnen Schlauch verbunden zu sein. Der Kasten hatte oben eine Art Deckel, der aufgeklappt nach oben stand, so dass man hineinsehen konnte. Innen drin war der Kasten mit Stoff bezogen und schien am Boden gepolstert zu sein. Schlagartig dämmerte es Mac. Dies war ein Sarg. IHR Sarg!

Panik machte sich in ihr breit und instinktiv machte sie ein paar Schritte zurück. Doch Palmer's eiserner Griff und die geladene Waffe an ihrer Seite verhinderten, dass sie sich zu weit entfernte.

„Ich dachte mir schon, dass Sie Ihre neue Unterkunft nicht freiwillig beziehen würden, Sarah. Aber ich fürchte, Sie haben keine andere Wahl.“ Palmer steckte die Waffe weg und zog stattdessen blitzschnell eine Injektionsnadel hervor, die er Mac in den Oberarm stach, eh sie reagieren konnte.
„Was haben… Sie… mir… gegeben…“, brachte sie mühsam hervor.
„Nur ein schnell wirkendes Beruhigungsmittel. Sie werden sich gleich entspannen.“

Der Boden unter Mac's Füßen begann sich zu bewegen, und ihre Knie versagten den Dienst. Ehe sie umkippen konnte, hielt Palmer sie mit beiden Armen fest und fing sie auf. Mac war bei Bewusstsein, konnte sich aber nicht dagegen wehren, dass Palmer sie hochhob und in den Metallsarg legte. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie entsetzt zu, wie sich der Deckel über ihr senkte und sie in Dunkelheit tauchte.


Naval Legal Service Office
7 North Audley, London
23:16 Uhr Zulu

„Möchtest du noch einen Kaffee?“ Kate rieb sich müde die Augen und hielt Harm einen gefüllten Becher hin.

„Ja, danke.“ Harm nahm Kate den Becher ab und stellte ihn zwischen die Stapel an Unterlagen, die sich auf seinem Schreibtisch türmten. Auch ihm war die späte Stunde anzusehen. Seine Uniformjacke hatte er bereits lange über den Stuhl gehangen, die Krawatte hing locker um seinen Hals, und der oberste Hemdknopf war geöffnet. Auf seinen Wangen waren bereits Bartstoppeln zu erkennen, und dunkle Ringe zierten seine übermüdeten Augen. Normalerweise war es kein Problem für ihn, bis spät in die Nacht hinein zu arbeiten. Doch diesmal war er nicht nur körperlich erschöpft. Die Angst um seine Frau machte ihn auch psychisch mürbe.

Die letzten fünf Stunden hatte Harm damit verbracht, über Karten des Londoner Großraums zu brüten, in der Hoffnung eine Eingebung zu erhalten, wo Palmer sich versteckt halten könnte. Zwischendurch war er in seinem Büro auf und ab gelaufen, als wollte er auf engstem Raum eine Marathonstrecke hinter sich bringen. Doch mittlerweile würde er die etlichen Karten am liebsten mit einer einzigen Handbewegung vom Tisch fegen.

Es gab so viele Möglichkeiten, wo Palmer's Versteck liegen konnte, dass er keinen Schritt weiter war. Bisher hatte er auch keine Nachricht von seinem Feind erhalten. Sollte Harm sich so sehr in der Situation geirrt haben? Vielleicht war Mac doch nur ein paar Tage weggefahren, und Palmer hatte mit ihrem Verschwinden nichts zu tun. Es war auch gar nicht Palmer's Art, sich so lange bedeckt zu halten, wenn er hinter ihm her gewesen war. Aber die Leiche von Larry Johnson konnte einfach kein Zufall sein.
Er wollte daran glauben, dass er sich das alles nur einbildete, und Mac am nächsten Tag einfach durch die Tür spaziert kam. Sein Verstand war schon kurz davor, dies zu glauben. Doch sein Instinkt und vor allem sein Herz widersprachen energisch. Es gab zwar bisher keinen eindeutigen Beweis dafür, dass er mit seiner Vermutung Recht hatte, doch sein Instinkt hatte ihn bisher immer in die richtige Richtung gelotst.

Kate sah in besorgt an. Harm sah müde und abgespannt aus. Er hatte in den vergangenen Stunden kaum etwas anderes getan, als sich den Kopf über Palmer's möglichen Aufenthaltsort zu zerbrechen. Sie hatte ihm zwischendurch etwas zu essen gebracht. Bis auf etliche Tassen Kaffee hatte er jedoch nichts angerührt. Sie konnte in dieser Situation zwar nicht viel ausrichten, dennoch hatte sowohl sie als auch Admiral Wilson entschieden, Harm in dieser schwierigen Lage nicht allein zu lassen. Der Admiral ging im inzwischen menschenleeren Großraumbüro auf und ab und telefonierte beinah im Minutentakt mit dem NCIS, ob es neue Erkenntnisse gab.

Das plötzliche Klingeln von Harm's Handy ließ alle Anwesenden aufhorchen. Harm ließ beinahe die Tasse Kaffee fallen, die er gerade in der Hand hielt, und der Admiral eilte schnell in dessen Büro. Er gab Harm durch ein Zeichen zu verstehen, er solle kurz warten, und informierte den NCIS darüber, augenblicklich die Fangschaltung zu aktivieren.

Mit zittrigen Händen legte Harm das klingelnde Telefon vor sich auf den Tisch und wartete gebannt darauf, antworten zu können. Endlich gab der Admiral ihm das erlösende Signal. Rasch griff Harm sich das Handy und nahm das Gespräch an.

„Rabb?“ meldete er sich und versuchte, dabei möglichst gelassen zu klingeln.
„Hallo Harm, mein Freund. Na, haben Sie mich schon vermisst?“ Es war Clark Palmer. Innerlich machte Harm's Herz einen Hüpfer, da er nun endlich in Erfahrung bringen konnte, wie es um Mac stand.
„Nicht wirklich Palmer. Was ist, hat Ihnen Leavenworth nicht mehr gefallen?“ Harm wusste, dass er ihn möglichst lange in der Leitung halten musste, um den Standort bestimmen zu können.
„Ach lassen wir doch die Spielchen, Harm. Sie wissen doch ganz genau, weshalb ich anrufe. Und ich wette, Sie können es kaum abwarten, mich nach Ihrer Frau zu fragen, stimmt's?“ Palmer's hämisches Lachen schallte durch den Lautsprecher des Handys, dass selbst Kate und Admiral Wilson es hören konnten
„Geht es ihr gut? Wenn Sie Ihr auch nur ein Haar gekrümmt haben, dann…“
„Ja, dann töten Sie mich, bla bla bla. Schon klar. Aber das würden Sie doch ohnehin tun, wenn Sie die Gelegenheit dazu hätten, nicht wahr?“
„Sagen Sie mir, was Sie wollen!“ Harm klang zusehends genervt. Er hatte Palmer's Spiele satt.
„Okay, kommen wir zum Punkt. Sie wissen, dass ich Ihre Frau bei mir habe. Noch geht es ihr gut. Aber das hängt natürlich in erster Linie von Ihnen ab.“
„Spucken Sie schon aus, was ich tun soll!“ Harm war nun wütend. Er war von seinem Stuhl aufgesprungen und lief im Zimmer umher.
„Seien Sie lieb, Harm. Sonst erfahren Sie gar nichts.“ Palmer klang eiskalt. Er schien die Ruhe selbst zu sein.

Harm atmete tief durch, ehe er antwortete.
„Schon gut. Ich höre?“
„Okay, wir werden einen kleinen, sagen wir Wettkampf veranstalten. Und Ihre Frau ist gewissermaßen der Hauptpreis. Ich benötige allerdings noch ein wenig Vorbereitungszeit. Ich wollte Sie nur schon mal davon in Kenntnis setzen, um Sie bei Laune zu halten. Ich melde mich in Kürze wieder, dann bekommen Sie weitere Details.“ Ein abruptes Klicken in der Leitung beendete das Gespräch. Harm ließ das Telefon sinken und sah zum Admiral hinüber, der ihn erwartungsvoll ansah.
„Er hat aufgelegt. Haben Sie ihn?“

Wilson wählte von Harm's Diensttelefon aus schnell die Nummer des NCIS-Agenten, der die Fangschaltung beaufsichtigt hatte, und schaltete den Lautsprecher ein, damit Harm und Kate mithören konnten.
„Wie sieht's aus, Agent Brown, haben Sie ihn?“
„Der Typ hat die Verbindung ein paar Mal um den Globus geschickt. Wir wissen leider nur so viel, dass er definitiv aus London angerufen hat. Näher ließ es sich nicht eingrenzen, dafür war die Zeit zu knapp.“
„Hier ist Captain Rabb. Haben Sie das Gespräch aufgezeichnet?“ fragte Harm dazwischen.
„Ja, warum?“ wollte der NCIS-Agent wissen.
„Ich glaube, ich habe ein Geräusch im Hintergrund gehört. Als er sagte, ich würde ihn bei passender Gelegenheit töten. Können Sie diese Stelle noch mal abspielen?“
„Sekunde, geht gleich los.“

Einen Augenblick später war die gewünschte Stelle des Telefonats noch einmal durch den Lautsprecher zu hören. Harm, Kate und der Admiral lauschten angestrengt nach einem Laut, der nicht zum Gespräch gehörte.

„Da, da war es eben!“ entfuhr es Harm. „Können Sie es rausfiltern und noch mal lauter abspielen?“
„Sekunde“, bestätigte der Agent am anderen Ende der Telefonleitung.

Ein einzelnes lang gezogenes Geräusch tönte durch das Büro.

„Das ist eine Schiffsglocke“, erkannte Wilson den Ton als erster.
„Dann muss Palmer in der Nähe des Hafens sein“, schlussfolgerte Kate.
„Danke, Agent Brown!“ Admiral Wilson beendete die Telefonverbindung.
„Das Hafengelände wurde doch größtenteils zu Geschäften und Eigentumswohnungen umgebaut. Wo könnte er sich dort versteckt halten?“ Harm legte die Stirn in Falten.
„Es wurden noch nicht alle alten Lagerhallen umgebaut, Captain. Es gibt immer noch einige leer stehende Gebäude.“
„Die könnte ich raussuchen“, schlug Kate vor und nahm an Harm's Schreibtisch hinter dem Computer Platz.

Flink huschten ihre Finger über die Tastatur. Harm und Wilson stellten sich hinter sie, um ihre Arbeit verfolgen zu können. Auf dem Monitor entstanden verschiedene Karten der alten Docklands, gefolgt von Bebauungs- und Grundstücksplänen. Dann begann der Drucker zu rattern und spuckte die gesuchten Informationen aus.

Kate griff sich die Ausdrucke und sah Harm zuversichtlich an.
„Mit ein bisschen Glück ist sein Versteck mit dabei. Lass uns keine Zeit verlieren.“
„Uns?“ Harm sah Kate skeptisch an. So ganz hatte er ihr das Versteckspiel noch nicht verziehen.
„Ich glaube, ich habe da noch was gut zu machen.“ Sie schenkte Harm einen zerknirschten Blick.
„Sie sollten ihre Hilfe annehmen, Captain. Sie können momentan jede Hilfe gebrauchen, die Sie kriegen können. Und Palmer rechnet anscheinend nicht damit, dass wir ihn vor seinem geplanten Zeitpunkt finden. Ich würde Sie ja selbst begleiten, aber in meinem Alter sollte ich solche Unterfangen lieber bleiben lassen.“
„Ich weiß Ihre Hilfe zu schätzen, Admiral“, erwiderte Harm.
„Ich werde aber dafür sorgen, dass ein Einsatztrupp abrufbereit sein wird, falls Sie Verstärkung benötigen. Viel Glück, Captain.“

Harm nickte dem Admiral zu, zog sich seine Uniformjacke über und verließ mit Kate das Gebäude.
Die Suche begann.


Liebe Grüsse Petra

Kalorien sind kleine Tierchen, die nachts die Kleidung enger nähen.

 
Petra-Andreas
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RE: Alte Freunde - Alte Feinde von Inque

#6 von Petra-Andreas , 14.05.2007 23:02

Kapitel 15


Sonntag, 23. Oktober 2005
Lagerhalle
Docklands, London
00:35 Uhr Zulu

Langsam ließ die Wirkung des Beruhigungsmittels nach, so dass Mac zumindest wieder Kontrolle über ihre Gliedmaßen hatte. Das nützte ihr allerdings herzlich wenig, da sie sich in dem Metallsarg, in den Palmer sie gelegt hatte, ohnehin aus Platzgründen kaum bewegen konnte. Innen drin war es stockdunkel, nur mit den Fingerspitzen konnte Mac die Abmessungen ihres Gefängnisses ertasten. Vom Fußende her konnte sie ein leises gleichmäßiges Zischen hören. Dass musste der Sauerstoff sein, der aus der angeschlossenen Flasche hineinströmte. Wenigstens hatte er also nicht vor, sie sofort zu töten. ‚Wie rücksichtsvoll von Palmer', dachte Mac sarkastisch.

„Wie ich sehe, sind Sie wieder bei Kräften, Sarah.“
Mac erschrak, als sie Palmer's Stimme dicht an ihrem Ohr vernahm.

„Ich bin nach wie vor dicht bei Ihnen, kann Sie sehen und hören, und Sie können mich hören. So kann ich Sie im Auge behalten, bis Ihr Mann hier eintrifft. Ganz recht, ich habe mit ihm Kontakt aufgenommen. Es wird jedoch noch eine Weile dauern, bis ich ihn zu unserer kleinen Party hier einlade. Bis dahin haben Sie nichts zu befürchten. Also schlafen Sie ruhig ein wenig, Sarah. Es könnte das letzte Mal sein….“ Palmer's Lachen war für einen Moment zu hören, dann schaltete er offensichtlich das eingebaute Mikrophon aus.

Nicht einmal hier hatte Mac ihre Ruhe vor ihm. Vermutlich wollte er ihr sogar beim Sterben zusehen, um seine Rachegelüste Harm gegenüber zu genießen. Harm… wo war er nur? Würde er rechtzeitig hier sein, um sie zu retten? Sie, die bei ihrem letzten Zusammensein ihn einfach hatte gehen lassen. Ohne ein liebes Wort, ohne einen letzten Kuss. Nur weil ihr Stolz sich ihr in den Weg gestellt hatte. Sie hatte die Befürchtung gehabt, IHM könnte etwas zustoßen, und sie hätte sich nicht richtig von ihm verabschiedet. Doch nun war sie diejenige, die ihn Gefahr schwebte. Tränen der Verzweiflung begannen ihre Wangen hinabzurinnen, doch kein Laut entfuhr ihren Lippen. Diesen Triumph gönnte sie Palmer nicht.


Irgendwo in den Docklands, London
02:04 Uhr Zulu

Harm und Kate hatten in den vergangenen Stunden etwa die Hälfte der knapp Dutzend leer stehenden Lagerhallen unter die Lupe genommen, die Kate in der Hafengegend ermittelt hatte. Doch bisher waren sie ohne Erfolg gewesen. Und mit jedem leeren Gebäude sank die Hoffnung, Mac rechtzeitig zu befreien, bevor Palmer ihr möglicherweise etwas antun konnte. Mittlerweile hatte ein starker Regen eingesetzt, und die Temperatur befand sich nur knapp über dem Gefrierpunkt. Beide waren völlig durchnässt, und Kälte und Erschöpfung erschwerten ihre Suche zusätzlich.

Inzwischen hatten sie das nächste Gebäude erreicht. Kate saß neben Harm auf dem Beifahrersitz und zitterte vor Kälte, trotz laufender Wagenheizung. Harm stellte den Wagen ein wenig abseits der gesuchten Adresse ab und schaltete die Scheinwerfer ab, ließ den Motor aber laufen.

„Du kannst ruhig hier warten und dich ein bisschen aufwärmen. Wahrscheinlich haben wir ohnehin wieder kein Glück“, sagte Harm in Kate's Richtung.
„Und wenn er sich nun ausgerechnet hier versteckt hält?“ erwiderte Kate und rieb sich Hände und Oberarme, um die Kälte aus ihren Gliedern zu vertreiben.
„Momentan bist du mir aber auch keine große Hilfe, wenn du kaum eine Waffe in der Hand halten kannst.“ Harm sah die aufkeimende Empörung in ihrem Gesicht und fügte gleich hinzu: „Entschuldigung, das sollte kein Vorwurf sein. Ich bin dir für deine bisherige Hilfe sehr dankbar, aber momentan gefällt mir deine Verfassung überhaupt nicht.“
„Ist deine denn soviel besser?“ fragte sie zurück. Ihr war die bläuliche Verfärbung von Harm's Lippen nicht entgangen, doch er hatte sich bisher nichts anmerken lassen. Dabei stand er mindestens genauso kurz vor einer Lungenentzündung wie sie auch.
„Nein, vermutlich nicht“, gab er zu. Und für einen kurzen Augenblick konnte Kate die bleierne Müdigkeit in seinen Augen sehen, die jedoch gleich wieder von seiner Entschlossenheit verdrängt wurde. „Aber du kannst hier sitzen bleiben. Ich kann es nicht….“
„Na schön. Aber wenn du in zehn Minuten nicht zurück bist, komme ich dich holen“, gab Kate schließlich nach.

Harm verließ den Wagen und entschwand kurz darauf aus Kate's Blickfeld. Für alle Fälle rutschte sie auf den Fahrersitz hinüber und verriegelte die Türen.


Lagerhalle
Docklands, London
02:12 Uhr Zulu

Harm war um das Gebäude herumgelaufen, bis er schließlich eine unverriegelte Tür fand. Der Regen war stärker geworden, daher schlüpfte er schnell hinein. Eine Notbeleuchtung war an der Wand befestigt, spendete aber nur schwaches Licht. Es reichte jedoch aus, um eine Treppe auszumachen, die nach oben führte.

‚Seltsam', dachte Harm. ‚Wenn dieses Gebäude leer steht, wieso wird es dann mit Strom versorgt. Könnte dies Palmer's Versteck sein?' Sein Puls beschleunigte sich bei dem Gedanken, Mac könnte hier versteckt sein. Harm zog seine Waffe und entsicherte sie. Mit der Waffe schussbereit in der Hand ging er langsam die Treppenstufen hinauf.


Währenddessen

Palmer wurde durch ein regelmäßiges Piepen geweckt. Verschlafen rieb er sich kurz die Augen, war aber Sekunden später hellwach. Er ging zu seinen Monitoren hinüber, um zu sehen, was da los war. Irgendetwas hatte den Bewegungssensor ausgelöst, den er im Eingangsbereich des Gebäudes installiert hatte. Aufmerksam beobachtete er jeden der Bildschirme und betätigte den Umschalter, um auf die verschiedenen Überwachungskameras umzuschalten, die er überall verteilt hatte. Man konnte ja nie wissen. Da! Auf einem der Monitore war eine Gestalt auszumachen, die sich durch einen der unter ihm liegenden Räume bewegte. Der Raum war zwar nur schwach beleuchtet, aber er hätte die Person selbst im Dunkeln mit verbundenen Augen erkannt. Es war Harmon Rabb! Verdammt, wie hatte er ihn so schnell finden können? Das gehörte eindeutig nicht zu Palmer's Plan.

‚Na schön, dann muss ich eben improvisieren', schoss ihm durch den Kopf. Eigentlich hatte er Rabb's Frau noch eine Weile am Leben lassen wollen. Sie wäre frühestens an diesem Morgen dran gewesen. Aber da es ihr Ehemann eilig gehabt hatte, hierher zu kommen, war nun keine Zeit mehr, seinen genialen Plan zu Ende zu führen. Dann würde sie eben jetzt sterben müssen. Und Rabb war schuld daran! Mit einem grausamen Lächeln auf den Lippen ging er zum Metallsarg hinüber, in dem Mac vor Erschöpfung eingeschlafen war, und entfernte den Schlauch, mit dem bisher die Sauerstoffversorgung aufrecht erhalten worden war. Die verbleibende Öffnung versiegelte er so, dass sie nicht ohne weiteres wieder zu öffnen war.

Anschließend ging er wieder zu seinem Schaltpult. Er aktivierte die Infrarotkamera, mit der er Mac auch in der Dunkelheit beobachten konnte, und schaltete zusätzlich das im Sarg befestigte Mikrophon ein. Sie sollte wissen, dass es nun Zeit zum Sterben war!

„Sarah, wachen Sie auf!“ weckte Palmer sie unsanft.
Langsam öffnete Mac die Augen und zwinkerte ein paar Mal, um den Schlaf zu vertreiben. Alles, was sie tun konnte, war in die Finsternis hineinzustarren und darauf zu warten, dass Palmer ihr mitteilte, was er wollte.

„Ich wollte mich von Ihnen verabschieden, Sarah. Ihr Mann hat leider meinen Zeitplan durcheinander gebracht, daher muss ich Sie bereits jetzt töten. Der Sauerstoff wird noch etwa für 15 Minuten reichen, dann werden Sie leider ersticken, meine Liebe. Aber trösten Sie sich: Sie werden mich nie wieder sehen.“

Amüsiert hatte Palmer beobachtet, wie Mac's Augen sich vor Panik geweitet hatten, während er ihr ihren baldigen Tod verkündet hatte. Er hatte darauf verzichtet, auch die Lautsprecher einzuschalten. Ihre verzweifelten Rufe und ihr Hämmern gegen den Sargdeckel hätten ihn nur in seiner Konzentration gestört. Palmer zog eine angeschlossene Tastatur näher an sich heran und aktivierte als letzten Akt eine spezielle Vorrichtung, die er am Sarg angebracht hatte. Dann wartete er mit einer Pistole im Anschlag, dass sein Feind endlich eintraf.

Langsam betrat Harm den nächsten Raum und blickte sich suchend um. Seitlich an der Wand befand sich ein Metallkäfig. In ihm standen ein Feldbett und ein kleiner Tisch. Die Tür zum Käfig stand offen. Harm trat vorsichtig ein und sah sich aufmerksam um. Auf dem Bett lag ein Kleidungsstück, das ihm bekannt vorkam. Er hob es hoch, um es sich anzusehen. Es war Mac's Mantel. Für einen kurzen Moment vergrub er sein regennasses Gesicht darin und kämpfte gegen die hochsteigenden Tränen an. Sie war also hier. Aber war sie noch am Leben, wie Palmer es gesagt hatte? Unbewußt ballte er seine Hände zu Fäusten und ließ den Mantel dann wieder fallen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes entdeckte er eine weitere Tür. Mit schussbereiter Waffe verließ er den Bereich durch diese Tür.

Irgendwann begriff Mac, dass alles Rufen und Klopfen keinen Sinn hatte. Das einzige, was sie dadurch bewirkte, war, dass der Sauerstoff schneller verbraucht wäre, als wenn sie still daliegen würde. Das war es also? Sollte so ihr Leben zu Ende gehen? Sie hatte Angriffe inmitten von Kriegsgebieten überlebt, war einem Psychopathen entkommen, der es auf sie abgesehen hatte. Sie hatte schon etliche gefährliche Situationen heil überstanden, sei es in der Luft, auf See oder unter Wasser. Nun lag sie hier wehrlos in dieser Kiste und konnte nur auf ihren Tod warten. Das war so unfair! Es gab noch so viele Menschen, die sie um Verzeihung bitten wollte. Und Menschen, denen sie noch nicht verziehen hatte. Menschen, die ihr etwas bedeuteten oder bedeutet hatten, von denen sie sich noch nicht verabschiedet hatte. Und dann war da das heranwachsende Leben in ihrem Bauch, das niemals das Licht der Welt erblicken würde. Sie hatte sich immer gefragt, ob sie in der Lage sein würde, eine gute Mutter zu sein. Nun würde sie es niemals erfahren. Und sie hatte keine Gelegenheit mehr, Harm zu sagen, wie unendlich sie ihn liebte. Mac schloss die Augen und versuchte, sich vor ihrem inneren Auge sein Gesicht vorzustellen. Wenn sie schon sterben musste, dann wollte sie ihm wenigstens so nah wie möglich sein. Dann würde sie alles ertragen können.


Vor der Lagerhalle
02:23 Uhr Zulu

Nervös schaute Kate immer wieder auf ihre Uhr. Die Zehn-Minuten-Frist war bereits abgelaufen, doch Harm hatte sich noch nicht wieder blicken lassen. Sie überprüfte noch einmal ihre Waffe, bevor sie den Motor abstellte und dann den Wagen verließ. Sie lief durch den Regen auf das Gebäude zu und suchte den Eingang. Als sie ihn gefunden hatte, atmete sie noch einmal tief durch, ehe sie das Gebäude mit klopfendem Herzen betrat.


In der Lagerhalle
02:26 Uhr Zulu

Harm's Puls beschleunigte sich immer mehr, je weiter er die Stufen der Treppe hochstieg. Palmer konnte nicht mehr weit sein, das spürte er. Nur noch ein paar Schritte, dann hatte er den Treppenabsatz erreicht. Oben angekommen erwartete ihn jedoch nur ein weiterer leerer Raum. Er sah jedoch von irgendwo her einen Lichtkegel, der heller als der Rest der Beleuchtung bis in diesen Raum strahlte. Langsam und so leise er konnte, verfolgte er den Lichtstrahl. Als er die Quelle des Lichtstrahls fast erreicht hatte, schallte ihm jedoch bereits eine bekannte Stimme entgegen.

„Kommen Sie nur herein, Harm. Ich habe Sie bereits erwartet. Oder haben Sie ernsthaft angenommen, ich würde Ihre Anwesenheit nicht bemerken? Haben Sie denn meine zahlreichen Überwachungskameras nicht gesehen?“

Verdammt, Palmer musste die ganze Zeit über genau gewusst haben, wo er sich aufgehalten hatte. Die ganze Anschleicherei hätte er sich getrost sparen können. Trotzdem blieb Harm noch einen Moment neben dem Türrahmen in Deckung.
Fest umklammerte er seine Waffe, atmete tief durch, und stürmte dann mit erhobener Waffe in den angrenzenden Raum. Nur wenige Meter von ihm entfernt stand Palmer vor ihm und zielte ebenfalls mit einer Waffe auf ihn. Schier endlose Sekunden vergingen, in denen die beiden Kontrahenten mit ihrer Waffe auf den jeweils anderen zeigten und nur auf eine falsche Bewegung lauerten, um abzudrücken.

„Tja, mir scheint, wir haben hier ein Unentschieden. Finden Sie nicht auch?“ Palmer grinste Harm überheblich an.
„Lassen Sie die Spielchen. Wo ist meine Frau?“ zischte Harm.
„Hm, das könnte ich Ihnen verraten. Aber nennen Sie mir einen Grund, weshalb ich das tun sollte?“
„Weil ich Sie dann vielleicht am Leben lasse“, presste Harm hervor.
„Ich finde nicht, dass Sie sich in der Position befinden, um hier Anweisungen zu geben, Harm. Ihnen ist es vielleicht entgangen, aber ich habe ebenfalls eine Waffe auf Sie gerichtet. Wie kommen Sie nur darauf, dass Sie im Vorteil sind?“

„Weil auf Sie jetzt zwei Waffen gerichtet sind, Palmer!“ Hinter Harm kam Kate überraschend zum Vorschein und zielte mit ihrer Waffe geradewegs auf Palmer's Kopf. „Sie können nicht uns beide erschießen.“
„Na, das ist aber unfair. Erst halten Sie sich nicht an meine Anweisungen, und dann bringen Sie auch noch Verstärkung mit. Jetzt werde ich aber wirklich sauer, Harm!“ In Palmer's Stimme schwang nun großer Ärger mit. In seinen Augen meinte Harm einen Hauch von Nervosität zu erkennen. „Aber wissen Sie was, ich werde durch etwas anderes entschädigt. Sehen Sie die Metallkiste dort an der Wand? Dies ist der Sarg Ihrer Frau. Und praktischerweise liegt sie schon drin. Dummerweise geht ihr in ca. zwei Minuten der Sauerstoff aus. Aber kommen Sie besser nicht auf die Idee, ihn zu öffnen. Ich habe eine Sprengladung angebracht, die beim kleinsten Versuch, sie zu entschärfen oder zu entfernen, in die Luft geht. Mit anderen Worten: Ihre Frau wird entweder ersticken oder in Stücke gerissen!“

„Nein!!“ Harm schrie verzweifelt auf und stürmte auf Palmer zu. Doch dieser wich zurück. Eine hastige Bewegung war in seinem Mund auszumachen, als ob er etwas hinunterschluckte.
„Sehen Sie Ihrer Frau beim Sterben zu!“ waren seine letzten Worte, und Sekunden später wurde sein Körper von Krämpfen geschüttelt. Dann brach er zusammen und sank auf den Boden.


Kapitel 16


Lagerhalle
Docklands, London
02:29 Uhr Zulu

Fassungslos starrte Harm auf Palmer's leblosen Körper. Kate näherte sich ebenfalls und ließ ihre Waffe sinken. Sie kniete sich neben Palmer und fühlte dessen Puls.
„Er ist tot, Harm“, stellte sie fast schon schockiert fest. Ein leichter Duft nach Bittermandeln hing in der Luft. „Dem Geruch nach muss er eine Zyankalikapsel genommen haben.“

Doch Harm stand nur wie versteinert da und reagierte nicht. Dann endlich schien er zu realisieren, was Palmer eben gesagt hatte. Langsam bewegte er sich auf den metallenen Sarg zu.

„Sie wird ersticken oder in Stücke gerissen“, wiederholte er leise. Hilflos stand er einfach nur da und starrte auf den Sprengsatz an der Oberfläche.
„Harm! Komm schnell her!“ Kate war zum Schaltpult hinübergegangen und schaute auf einen der Monitore. „Palmer hat anscheinend eine Kamera in dem Ding installiert. Mac lebt noch!“

Hastig stürzte Harm zu Kate und schaute ebenfalls wie gebannt auf den Monitor. Mac's Gesicht war dort zu sehen. Ihre Augenlider flatterten, und das Atmen fiel ihr sichtlich schwer. Doch noch war sie am Leben!

„Mac!“ rief er verzweifelt und schlug mit der Faust auf die Platte des Pultes.
Kate lief derweil zum Sarg hinüber und begutachtete die Sprengladung.

„Was machst du da?“ rief Harm ihr sorgenvoll zu.
„Ich sehe mir die Zündvorrichtung an. Vielleicht kann ich erkennen, wie der Sprengsatz ausgelöst wird. Irgendwie muss er zu entschärfen sein. Ich glaube nämlich nicht, dass Palmer vorgehabt hatte, sich mit uns in die Luft zu sprengen. Das Zyankali muss ein Notfallplan gewesen sein. Ich sehe hier eine Art Funkempfänger. Mit irgendetwas muss der Sprengsatz also Funkkontakt haben.“
„Seit wann kennst du dich im Bombenentschärfen aus?“ fragte Harm ungläubig.
„NCIS-Grundkurs“, lächelte Kate verschmitzt.
„Okay, Funk also…“. Harm sah sich die technischen Apparaturen um das Schaltpult herum genauer an. „Ich hab hier vielleicht was gefunden. Ist mit dem Rechner verbunden“, rief er Kate zu.

Kate eilte zurück zum Schaltpult und nahm hinter der Tastatur Platz.

„Okay, wollen mal sehen, ob ich da rein komme, um es zu deaktivieren“, murmelte sie. „Harm, gib du in der Zwischenzeit bei JAG Bescheid. Die sollen Verstärkung schicken. Und einen Rettungswagen…. nur für alle Fälle.“

Während Harm telefonierte, begann Kate, die Tastatur zu bearbeiten. Ihre Finger flogen über die Tasten, und die angezeigten Seiten wechselten so schnell, dass Harm mit dem Zusehen kaum hinterher kam.

„Bist du sicher, dass du das hinbekommst?“ fragte er angespannt, nachdem er sein Telefonat beendet hatte.
„Schon vergessen? Ich hab dir doch den Titel „Schnellste Finger der Navy“ streitig gemacht.“ Kate lächelte kurz, konzentrierte sich dann aber wieder vollkommen auf den Bildschirm vor sich.

Harm sah derweil stetig auf den Monitor, auf dem Mac zu sehen war. Er führte seine Hand zum Monitor und berührte den Bildschirm, als wollte er Mac's Wange streicheln.

„Halte durch, Liebling“, flüsterte er.
Plötzlich bewegten sich Mac's Lider nicht mehr und ihr Kopf fiel zur Seite. Sie schien das Bewusstsein verloren zu haben.
„Nein, bitte nicht…“ Harm's Stimme war nur noch ein heiseres, tränenersticktes Flüstern.

Kate warf Harm einen nervösen Blick zu. Er war bisher so stark gewesen, hatte sich nur darauf konzentriert, Palmer zu finden. Aber die Angst um seine Frau hatte nun Überhand genommen. Kate hatte ihn nie anders als stark und entschlossen erlebt, doch nun hatte sie die Befürchtung, er könnte jeden Augenblick neben ihr zusammenbrechen. Und bevor das geschah, musste sie diesen verdammten Sprengsatz deaktivieren!

„Ich glaub, ich hab's gleich… Funkkontakt deaktiviert! Los, lass uns den Sprengsatz entfernen!“

Harm und Kate eilten beide zum Metallsarg und begannen, die angeschlossenen Drähte des Sprengsatzes vorsichtig zu durchtrennen. Nachdem der Sarg von seinem explosiven Gefährten getrennt worden war, öffnete Harm rasch den Sarg und hob den schweren Deckel an.

Mac lag regungslos im Inneren. Kleine Schweißperlen schimmerten auf ihrem Gesicht und ihr Haar klebte auf ihrer Stirn. Harm legte einen Arm unter ihre Schultern und den anderen unter ihre Knie. Mit letzter Kraft hob er sie aus dem Sarg heraus und legte sie vorsichtig auf dem Boden ab. Er kniete neben ihr und fühlte ihren Puls.

„Ihr Herz schlägt nicht mehr, und sie atmet auch nicht!“ Verzweiflung klang aus seiner Stimme heraus, doch beherzt begann er mit Wiederbelebungsversuchen.

Kate stand neben ihm und beobachtete, wie Harm seine Frau abwechselnd beatmete und Herzmassage an ihr durchführte. Sie selbst fühlte sich in diesem Moment unfähig, etwas zu tun, und wie gelähmt. Eine heulende Sirene in der Nähe riss Kate jedoch aus ihrer Lethargie.

„Der Krankenwagen!“ rief sie aufgeregt und stürzte nach unten zum Eingang, um den Sanitätern den Weg zu zeigen.

Wenige Minuten später kehrte Kate in Begleitung des Notarztes und zweier Sanitäter zurück. Einige Agenten des NCIS waren ebenfalls anwesend, um den Tatort und Palmer's Leiche zu untersuchen. Als sie jedoch durch die Tür trat, bot sich Kate ein erschreckendes Bild, und instinktiv hielt sie die restlichen Personen davon ab, den Raum zu betreten.

Apathisch hockte Harm auf dem Fussboden und wiegte Mac's schlaffen Körper in seinen Armen. Erst schien er niemanden zu bemerken, doch dann drehte er langsam seinen Kopf in ihre Richtung. Seine Augen wirkten glasig und müde, seine Wangen eingefallen und bleich.

„Sie hat es nicht geschafft…“, murmelte er. „Sie hat es nicht geschafft…“

Vorsichtig trat Kate an ihn heran.

„Harm, es ist jetzt Hilfe da“, sagte sie sanft, musste sich jedoch zusammenreißen, um nicht selbst in Tränen auszubrechen. „Komm, lass' sie sich um Mac kümmern.“

Nur widerwillig ließ er Mac's Körper los, um dem Arzt Platz zu machen, der sogleich diverse medizinische Utensilien aus seinem Koffer holte.

„Warum lassen sie sie nicht einfach in Ruhe…“, flüsterte Harm verzweifelt.
„Vielleicht ist es noch nicht zu spät“, erwiderte Kate hilflos und legte einen Arm um Harm, um ihn zu stützen.

Derweil begannen der Arzt und die Sanitäter mit der Wiederbelebung. Sie setzten Mac eine Sauerstoffmaske auf und zerschnitten ihr T-Shirt, um besser an ihren Brustkorb heranzukommen. Eine Dosis Epinephrin wurde ihr verabreicht und ein Defibrillator vorbereitet, während einige Dioden des EKG auf ihrer Haut befestigt wurden.

Unzählige Stimmen schwirrten durch den Raum, doch die Worte rauschten durch seinen Verstand, ohne dass Harm deren Sinn erfassen konnte. Er stand nur wie versteinert da, unfähig zu registrieren, was um ihn herum geschah. Er sah nur Mac's Gesicht und ihre geschlossenen Augen, in die er niemals wieder blicken durfte. Palmer hatte ihm genommen, was er am meisten liebte, und so trotz seines Freitodes einen Sieg über ihn errungen.

„Wir haben einen Sinus-Rhythmus!“ hörte er noch den Arzt sagen, dann gab sein Körper den Kampf gegen die Erschöpfung endgültig verloren.


King's College Hospital
Denmark Hill, London
12:23 Uhr Zulu

Schlagartig riss Harm die Augen auf. Ihm war, als erwachte er gerade aus einem schrecklichen Albtraum. Sein Blick wanderte durch den Raum, in dem er sich befand. Allem Anschein nach war es ein Krankenhaus. Aber warum lag er in einem Krankenbett? Harm wusste es nicht. So sehr er auch nachdachte, er konnte sich nicht mehr erinnern, was genau geschehen war, nachdem er Mac aus dem Metallsarg befreit hatte. Mac! Wo war sie? Ging es ihr gut? Die Gedanken schossen nur so durch seinen Kopf, und sein Herz begann zu rasen.

Harm setzte sich im Bett auf und schwang die Beine über den Bettrand. Entsetzt stellte er fest, dass er nur eins dieser scheußlichen Krankenhausnachthemden trug, die hinten mehr entblößten, als ihm lieb war. Doch zum Glück entdeckte er seine Uniform, die fein säuberlich über einen Stuhl gelegt war.
Mit wackligen Beinen stand er auf und begann, sich anzuziehen. Gerade war er bereits in die Hose gestiegen und war nun dabei, sein Hemd zuzuknöpfen, als Kate das Zimmer betrat. Irritiert stellte sie fest, dass er nicht mehr im Bett lag.

„Dich kann man ja keine fünf Minuten allein lassen“, schmunzelte sie.

Harm unterbrach seine Tätigkeit und packte Kate etwas unsanft an den Oberarmen.

„Du musst mir sagen, was mit Mac ist! Wo ist sie?“
„Erinnerst du dich nicht daran, was geschehen ist?“ fragte sie überrascht.
„Nicht genau. Ich weiß noch, dass wir Mac aus diesem Ding befreit haben. Aber danach…“ Harm runzelte die Stirn und sah sie angestrengt an. „Ich habe einen regelrechten Blackout. Wieso bin ich überhaupt hier?“
„Puh, wo fange ich an. Also, du hast versucht, Mac wiederzubeleben, da ihre Atmung und der Herzschlag ausgesetzt hatten.“ Kate's Miene wurde plötzlich ganz ernst. „Leider warst du aber erfolglos.“

Harm schluckte, ließ Kate los und sank wie erstarrt aufs Bett.

„Warte, ich bin noch nicht fertig“, beeilte sie sich zu sagen und legte eine Hand beruhigend auf seine Schulter. „In der Zwischenzeit ist der Krankenwagen eingetroffen, und der Arzt und die Sanitäter haben sich um Mac gekümmert. Aber du bist dann mittendrin einfach zusammengeklappt, und hast nichts mehr mitbekommen. Hast geschlafen wie ein Toter.“
„Was mitbekommen??“ Harm starrte Kate mit weit aufgerissenen Augen an.
„Sie lebt, Harm!“ Kate lächelte ihn an. „Sie hat es wie durch ein Wunder geschafft.“
„Wo ist sie? Kannst du mich zu ihr bringen?“
„Natürlich, komm mit.“

Hastig knöpfte sich Harm die restlichen Hemdknöpfe zu, schnappte sich seine Uniformjacke und folgte Kate dann nach draußen auf den Flur. Sie führte ihn in einen anderen Flügel des Gebäudes, das Harm inzwischen als das Krankenhaus erkannt hatte, in dem er selbst vor einigen Monaten gelegen hatte. Endlich waren sie auf der gesuchten Station angekommen. Auf dem Gang trafen sie auf Petty Officer Sinclair. Er wirkte übernächtigt und nippte an einem Becher Kaffee. Sofort nahm Sinclair Haltung an, als er Harm erblickte. Doch dieser winkte ab.

„Was tun Sie hier, Sinclair?“ fragte Harm ihn erstaunt.
„Commander Pike rief uns an und informierte uns über die Geschehnisse.“
„Wo ist Mattie?“
„Drinnen bei Ihrer Frau, Sir.“

Kate öffnete die Tür zu Mac's Zimmer. Sie trat ein, und Harm folgte ihr ungeduldig. Dort lag auf einem weißbezogenen Bett seine Mac. Mattie saß neben ihr auf einem Stuhl, den Kopf an Mac's Schulter gelehnt und hielt ihre Hand fest.

„Hey, Sailor“, lächelte Mac müde und sah ihn liebevoll an.

Harm näherte sich dem Bett und starrte ungläubig zu Mac hinunter. Da lag sie tatsächlich, lebendig und wunderschön wie eh und je, und blickte ihn aus braunen Augen zärtlich an. Mattie hatte sich derweil aufrecht hingesetzt und blickte Harm aus feucht schimmernden Augen an.

Wie in Zeitlupe setzte er sich neben Mac auf das Bett. Harm hob seine Hand und berührte sanft ihre Wange, so als müsse es sich vergewissern, dass sie tatsächlich echt sei. Keiner von beiden sagte auch nur ein Wort. Stumm zog Harm Mac in seine Arme und drückte sie fest an sich. In dem Moment, als er sie so nah bei sich spürte, ihren Atem an seinem Hals und das Klopfen ihres Herzens an seiner Brust, da brachen endlich all die angestauten Gefühle des letzten Tages aus ihm heraus. Erst waren es nur ein paar stumme Tränen, doch dann schluchzte er herzzerreißend. Nun konnte auch Mac die Tränen nicht mehr zurückhalten, und sie drückte Harm noch ein wenig fester an sich. Ihre Hände fuhren beruhigend über seinen Rücken und durch sein Haar.

„Ist ja gut“, murmelte sie immer wieder, hatte sie doch inzwischen von Kate erfahren, wie groß seine Besorgnis ihretwegen gewesen war.

„Ich dachte, ich hätte dich verloren…“, kam es tränenerstickt von Harm.
Mattie und Kate sahen sich derweil stumm an und verständigten sich mit Blicken, die beiden für einen Moment allein zu lassen. Unauffällig verließen sie den Raum.


Kapitel 17


King's College Hospital
Denmark Hill, London
12:38 Uhr Zulu

Nach schier endlosen Minuten, in denen Harm und Mac sich in den Armen gelegen hatten, verebbten ihre Tränen allmählich. Harm löste sich etwas von Mac, um ihr in die Augen sehen zu können.

„Geht es dir auch wirklich gut, Liebes? Hat er… dir etwas getan?“ fragte Harm leise.
„Er hat mich nicht angefasst, wenn du das meinst. Aber ich hatte trotzdem Angst. Vor allem um unser Baby.“

Mac blickte nach unten und legte einen Arm beschützend auf ihren Bauch. Harm legte seine Hand zärtlich auf ihre.

„Geht es dem Baby gut? Was haben die Ärzte gesagt?“ fragte Harm besorgt.
„Wie es aussieht, haben wir beide es heil überstanden. Sie wollen mich aber noch ein, zwei Tage zur Beobachtung hier behalten und ein paar Tests machen, um sicher zu gehen.“
„Ich hatte solche Angst, dass ich euch verloren hätte. Ich weiß nicht, was ich ohne dich gemacht hätte.“

Wieder zog Harm sie in seine Arme und drückte sie an sich. Mac vergrub ihren Kopf an seinem Hals und schloss die Augen. Sie hatte auch geglaubt, solche Momente nie wieder erleben zu können. Wie hatte sie vor allem nur einen Augenblick lang glauben können, Harm könnte sie mit Kate betrügen.


- Rückblende -

Zaghaft klopfte Kate an die Zimmertür. Ein leises „Herein“ ließ sie die Tür öffnen und eintreten. Mac, die dort auf einem Krankenbett lag, sah sie überrascht an. Sie hatte sie offensichtlich nicht erwartet.

„Kate! Was für eine Überraschung“, begrüßte Mac sie schwach.
„Hallo Mac. Schön zu sehen, dass Sie wohlauf sind.“
„Wo ist Harm? Ist er hier? Hat Palmer ihm etwas getan?“ Obwohl sie selbst nur knapp dem Tod entronnen war, galt Mac's einzige Sorge ihrem Ehemann.
„Keine Angst. Er ist zwar total übermüdet, aber es geht ihm gut. Das Krankenhaus hat ihn in einem anderen Flügel einquartiert, damit er sich ausruhen kann. Palmer ist übrigens tot. Von ihm haben Sie nichts mehr zu befürchten.“
„Gott sei Dank“, entfuhr es Mac erleichtert. „Haben Sie Harm bei der Suche nach mir geholfen? Sie sehen auch ziemlich erschöpft aus.“
„Ja, ich habe ihm geholfen, so gut ich konnte. War eine verdammt lange Nacht. Ich habe vorhin ein bisschen geschlafen, konnte aber nicht richtig abschalten. Daher wollte ich kurz nach Ihnen sehen. Und mit Ihnen reden, Mac.“
„Worüber?“

Kate, die bisher gestanden hatte, rückte sich einen Stuhl zurecht und nahm neben dem Bett Platz, um mit Mac auf Augenhöhe reden zu können.

„Nun, Harm hat mir erzählt, dass Sie beide vor unserer Abreise nach Portsmouth Streit hatten, und dass ich der Auslöser dafür war.“
„So, hat er das?“ Mac war ziemlich erstaunt darüber, dass Harm ausgerechnet mit Kate ihre Beziehungsprobleme besprach.
„Ja. Und daher möchte ich Ihnen unbedingt sagen, dass Sie von mir nichts zu befürchten haben. Von mir nicht, und von keiner anderen Frau. In seinem Herzen hat er gar keinen Platz für jemand anderen als für Sie, Mac. Das ist mir endgültig klar geworden. Ich gebe zu, dass ich noch gewisse Gefühle für ihn empfinde. Aber er liebt nur Sie. Und zwar so sehr, wie man einen anderen Menschen nur lieben kann. Das habe ich gesehen, als wir auf der Suche nach Ihnen waren. Egal, wie besorgt er war. Wie müde. Wie durchnässt vom Regen. Seine Gedanken galten immer nur Ihnen und dem Baby.“

Mac hatte bisher nur stumm zugehört. Verstohlen wischte sie sich jedoch eine Träne aus dem Augenwinkel.

„Danke“, antwortete Mac schließlich. „Auch dafür, dass Sie Harm geholfen haben.“
„Das war das mindeste, was ich tun konnte.“
„Wissen Sie vielleicht, was mit unserer Tochter Mattie ist?“
„Harm hat sie zusammen mit Petty Officer Sinclair aus London fortgeschickt, damit sie in Sicherheit ist. Ich habe sie aber bereits benachrichtigt. Die beiden müssten eigentlich jeden Moment hier eintreffen“, berichtete Kate.

In dem Moment klopfte es an der Tür. Doch ohne eine Antwort abzuwarten, wurde die Tür bereits geöffnet. Es war Mattie, die ungeduldig ihren Kopf durch die Tür steckte. Ein erleichtertes Lächeln zauberte sich auf ihr Gesicht, als sie Mac lebendig und wach vor sich sah. Wortlos kam sie ins Zimmer und fiel Mac um den Hals, die sie sogleich liebevoll an sich drückte. Petty Officer Sinclair blieb derweil zurückhaltend an der Tür stehen.

„Ich lasse Sie beide dann mal allein“, entschied Kate und stand von ihrem Stuhl auf. Sinclair nahm Haltung an, als sie an ihm vorbei ging und das Zimmer verließ.

„Ich liebe dich, Sarah“, murmelte Harm in Mac's Haar, während er sie noch immer fest umschlungen hielt.
„Ich liebe dich auch“, antwortete Mac sanft.
Harm löste sich wieder von ihr, sah Mac in die Augen und küsste sie unendlich zart auf die Lippen.

„Harm, ich muss mich noch bei dir entschuldigen“, entfuhr es Mac.
„Entschuldigen? Wofür?“ Harm sah sie verständnislos an.
„Unser Streit neulich. Wegen Kate… Ich..“
Weiter kam Mac nicht, denn Harm legt ihr sanft einen Finger auf den Mund.

„Das ist jetzt unwichtig. Wichtig ist nur, dass du lebst. Und dass wir zusammen sind. Alles andere interessiert mich jetzt nicht.“ Wieder küsste er sie, diesmal etwas leidenschaftlicher, doch immer noch sehr vorsichtig.
Wieder klopfte es an der Tür, und wieder war es Mattie, die ohne Abzuwarten die Tür öffnete.

„Kann ich wieder rein, oder störe ich?“ fragte sie zaghaft.
„Du störst doch nicht, Kleines. Komm ruhig rein“, beantwortete Mac ihre Frage.

Kate stand ebenfalls in der Tür, machte jedoch nur einen kleinen Schritt ins Zimmer.

„Ich wollte mich dann verabschieden, hab noch einige Berichte zu schreiben“, erklärte sie kurz. „Alles Gute, Mac. Kommen Sie schnell wieder auf die Beine. Harm..“ Sie nickte ihm kurz zu und wandte sich wieder zur Tür.
„Kate, warte einen Augenblick“, rief Harm ihr hinterher. Und an Mac gewandt: „Ich bin gleich wieder da, Schatz.“ Er küsste sie auf die Stirn und ging ebenfalls nach draußen.

Kate wartete bereits auf dem Flur auf ihn. Erwartungsvoll sah sie an.

„Ich habe mich noch gar nicht bei dir bedankt. Ohne deine Hilfe hätte ich das nie geschafft, und Mac wäre jetzt vermutlich tot“, begann er.
„Du musst dich nicht bedanken. Ich hatte schließlich etwas gut zu machen“, lächelte sie zurück.
„Jetzt wo Palmer tot ist, geht es für dich sicherlich wieder zurück nach Washington, wie?“
„Ja. In den nächsten Tagen, denke ich. Ich muss noch meinen Vorgesetzten Bericht erstatten und den Papierkram erledigen. Und dann eine heiße Dusche“, lachte sie. „Meine Uniform fühlt sich an, als wäre sie mit mir verwachsen.“
„Das glaube ich dir. Eine Dusche und eine Rasur könnte ich auch vertragen“, grinste Harm zurück und rieb sich das stoppelige Kinn. „Und schlafen. Ich hatte zwar das Vergnügen mit dem Krankenhausbett, aber so richtig ausruhen werde ich mich wohl erst können, wenn ich wieder zu Hause bin.“
„Oh ja, einen ganzen Tag lang schlafen wäre schön“, ergänzte Kate lächelnd.
„Vielleicht sehen wir uns ja noch mal kurz, bevor du fährst.“
„Ich werde kurz bei euch im Büro reinschauen, versprochen.“

Harm umarmte Kate noch kurz, bevor sie ihn in Richtung Ausgang verließ. Harm dagegen betrat wieder Mac's Zimmer. Mattie saß an ihrem Bett und hielt Mac's Hand.

„So gefällt mir das: meine beiden Frauen friedlich vereint“, grinste Harm breit. „Hey Mattie, wo hast du eigentlich Sinclair gelassen? Eben habe ich ihn draußen gar nicht mehr gesehen.“
„Ich habe ihm gesagt, er kann jetzt nach Hause fahren. Die letzte Nacht war, glaub ich, etwas anstrengend für ihn. Ich konnte kaum schlafen und hab ihn dadurch wohl dauernd geweckt. Und morgen muss er schließlich wieder pünktlich zum Dienst erscheinen, nicht war?“
„Äh, du hast was? Ihn geweckt?“ Harm's Kinnlade klappte sprichwörtlich nach unten.
„Das erklär ich dir ein anderes Mal…“ Jetzt war es Mattie, die breit grinste.

Harm setzte sich auf die andere Bettseite gegenüber Mattie und drückte sie und Mac liebevoll an sich. Der Alptraum hatte endlich ein Ende.


Dienstag, 25. Oktober 2005
King's College Hospital
Denmark Hill, London
09:25 Uhr Zulu

„Guten Morgen, meine Süße!“ Gut gelaunt betrat Harm Mac's Zimmer. Mac, die im Bademantel auf dem Bett saß, strahlte fröhlich, als sie ihren Mann eintreten sah. Zärtlich beugte Harm sich zu ihr hinunter und begrüßte sie mit einem Kuss.
„Hallo, mein Held“, lächelte sie ihn an. „Und alles Gute zum Geburtstag.“ Ihr Gesicht verfinsterte sich etwas, als sie fortfuhr: „Ich hatte eigentlich ein ganz spezielles Geschenk für dich geplant, aber das hat leider nicht geklappt, da ich ja hier bin statt zu Hause.“
„Ach Mac, mein schönstes Geburtstaggeschenk ist, dass du am Leben bist, und dass es dir gut geht. Was hat der Arzt gesagt? Kann ich dich heute mit nach Hause nehmen?“
„Er müsste gleich zur Visite kommen. Dr. Jenkins wollte noch ein paar Testergebnisse abwarten. Aber ich hoffe sehr, dass ich hier endlich rauskomme. Du und Mattie, ihr fehlt mir. Und ein bisschen Arbeit würde mir auch gut tun.“

„Nichts da, wenn du nach Hause kommst, wirst du dir und dem Baby erstmal ein wenig Ruhe gönnen. Ich habe mit dem Botschafter gesprochen, und er hat von sich aus entschieden, dass du wenigstens 14 Tage Urlaub bekommst, um dich zu erholen.“
„14 Tage? Harm, mir geht es doch gut!“ protestierte Mac.
„Momentan denkst du das vielleicht“, erwiderte Harm sanft. „Aber vergiss nicht, dass du fast gestorben bist. Das solltest du nicht auf die leichte Schulter nehmen. Aber weißt du was?“ Er sah Mac nun vergnügt an. „Admiral Wilson hat mir noch ein paar freie Tage genehmigt, bevor ich seine Nachfolge antrete. Das heißt, ich werde mich rund um die Uhr um dich kümmern können.“

Angesichts dieser Aussicht wusste Mac nicht, ob sie sich freuen oder in Panik ausbrechen sollte. Harm hatte sich ja bereits am Anfang ihrer Schwangerschaft wie eine Glucke aufgeführt. Wie sollte es da erst werden, da er nun der Meinung war, sie müsste sich ernsthaft erholen?

„Das ist toll, Schatz“, sagte sie schließlich und nickte dabei, als müsse sie sich selbst davon überzeugen. Harm, dem ihr Gesichtsausdruck nicht entgangen war, begann erst breit zu grinsen und schließlich vor lachen loszuprusten. Nun sah ihn Mac erst recht verdattert an. Schließlich schaffte Harm es dann doch, sich soweit zusammenzureißen, dass er antworten konnte.

„Kein Sorge, Marine. Das war ein Scherz. Ich habe zwar frei, aber ich werde dich schon nicht mit Fürsorge erdrücken. Höchstens ein bisschen…“
Mit einer Mischung aus Erleichterung und Empörung blickte Mac ihn nun an.
„Du Schuft…“, schimpfte sie, boxte ihn leicht mit der Faust in die Schulter, grinste aber nun ihrerseits schelmisch.

An der Tür klopfte es kurz und Dr. Jenkins, Mac's behandelnder Arzt, betrat das Zimmer.
„Guten Morgen, Mrs. Rabb. Wie fühlen Sie sich heute?“ Dr. Jenkins rückte seine Brille zurecht und schlug Mac's Krankenakte auf.
„Gut, danke“, antwortete sie etwas nervös.
„Wie sieht es aus, Doktor? Kann meine Frau nach Hause?“ fragte Harm ungeduldig.
„Nun, hundertprozentige Sicherheit werden wir wohl erst nach Geburt haben, da sich viele durch Sauerstoffmangel bedingte Schäden im pränatalen Stadium nicht feststellen lassen“, begann Dr. Jenkins seine Ausführungen. „Allerdings sind alle bisher durchgeführten Untersuchungen positiv gewesen. Ich würde sagen, Ihrer Tochter geht es so gut wie man das bei einem Fötus in diesem Stadium nur erwarten kann. Von meiner Seite spricht momentan nichts gegen eine sofortige Entlassung.“

Harm und Mac sahen erst sich und dann den Arzt an, als hätte er ihnen gerade eröffnet, dass Mac Fünflinge zur Welt bringen würde.
„Sagten Sie gerade….“
„… unsere Tochter?“
„Äh, ja. Wussten Sie das etwa noch nicht?“ stotterte Dr. Jenkins und lief augenblicklich rot an. „Das ist mir aber peinlich, ich…“

Doch die werdenden Eltern hörten ihm gar nicht weiter zu. Stürmisch umarmte Harm seine Frau, und von Mac waren nur glückliche Jauchzer zu hören.
„Ich… äh… lasse Sie dann mal allein.“ Unauffällig entfernte sich Dr. Jenkins und wischte sich den Schweiß von der Stirn.


Harm und Mac's Haus
Kensington and Chelsea, London
11:04 Uhr Zulu

Auf dem Weg vom Krankenhaus nach Hause gingen Mac und Harm noch einmal sämtliche weibliche Vornamen durch, die sie schon im Vorfeld in die engere Wahl genommen hatten. Und tatsächlich hatten sie sich bis zum Erreichen ihres Hauses auf einen Namen einigen können.
Harm hatte seinen Dienstwagen gerade in der Garageneinfahrt vor dem Haus abgestellt, als unerwartet Mattie aus dem Haus angelaufen kam.

„Mattie, was machst du denn hier? Solltest du nicht in der Schule sein?“ fragte Harm verwundert und ärgerlich zugleich.
„Ja, tut mir leid“, druckste sie herum. „Aber ich wollte hier sein, wenn… Mom nach Hause kommt.“ Dabei sah sie Mac schüchtern an.
Diese blickte Mattie mit großen Augen an. Mac war schlichtweg sprachlos, hatte sie doch nicht erwartet, dass Mattie sie jemals als ihre Mutter ansehen könnte.

„Ich freue mich, dass du da bist, Mattie“, sagte sie schließlich leise und umarmte ihre Adoptivtochter.

Harm hielt sich derweil zurück und beobachtete die Szene still. Er konnte sich gut vorstellen, welche Überwindung dies Mattie gekostet haben musste, aber auch, wie viel es Mac bedeuten musste.
Als die beiden Frauen sich voneinander lösten, glitzerten in ihrer beiden Augen Tränen der Freude, die sie sich aber beide schnell wegwischten.

„Hey, ich hätte fast was vergessen“, unterbrach Mattie die Stille. „Als ich vorhin ankam, wurde gerade etwas für dich geliefert, Dad.“
„Für mich? Und was?“ fragte Harm überrascht.
„Schau mal in der Garage nach…“, grinste Mattie.

Harm ging zur Garage hinüber und öffnete das Tor, das langsam nach oben rollte.

„Das gibt's doch nicht…“, entfuhr es ihm erfreut. In der Garage standen seine geliebte Corvette und seine Harley.
„Oh, mein Geburtstaggeschenk hat ja doch geklappt“, lächelte Mac.
„Das warst du?“ Harm grinste von einem Ohr zum anderen. Er nahm Mac in die Arme und küsste sie stürmisch.
„Ist mit dem Baby eigentlich alles in Ordnung?“ unterbrach Mattie die beiden.
„Ja, Schatz, mit dem Baby ist alles bestens“, lachte Mac.
„Und weißt du was?“ ergänzte Harm. „Wir haben heute erfahren, dass du eine Schwester bekommst.“
„Es wird ein Mädchen? Das ist ja toll!“ Mattie umarmte fröhlich ihre Eltern. „Habt ihr denn jetzt schon einen Namen?“

Mac sah zu Harm hinüber, und er nickte als Zeichen dafür, dass Mac es Mattie sagen sollte.

„Ihr erster Vorname wird ‚Catherine' sein. Und mit vollem Namen wird sie ‚Catherine Grace Rabb' heißen“, verkündete Mac.
„Grace?“ fragte Mattie gerührt.
„Ja. Wenn dir das recht ist“, antwortete Harm.
„Und wie!“ Mattie fiel ihren Eltern lachend und gleichzeitig weinend um den Hals. Und eine Weile standen die drei einfach nur da und hielten sich fest.


Epilog


Dienstag, 1. November 2005
Naval Legal Service Office
7 North Audley, London
10:17 Uhr Zulu

„Nette Rede, Captain Rabb. Und nochmals meinen Glückwunsch. Ich erwarte, dass Sie Ihre Arbeit zu meiner Zufriedenheit erledigen.“ Der Marineminister Edward Sheffield schüttelte Harm's Hand. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, sich zu Harm's Amtsantritt im Londoner JAG-Büro blicken zu lassen.
„Danke, Mr. Secretary. Es freut mich, dass Sie Ihren Besuch einrichten konnten.“
„Wenn Sie mich nun entschuldigen, Captain. Ich muss mit Admiral Wilson noch kurz etwas besprechen.“
„Natürlich, Sir.“

Der SecNav entfernte sich wieder und ließ einen sichtlich erleichterten Harmon Rabb zurück. Sein erster Tag als JAG Europe hatte mit einer kleinen Einführungsfeier begonnen, zu dem auch einige hochrangige Offizielle geladen worden waren. Zum seinem Bedauern musste er mit jedem von ihnen zumindest ein paar Worte wechseln, was ihm jedoch nach wie vor nicht behagte. Aber da musste er wohl oder übel durch. Leider hatte Mac ihn an diesem Tag nicht begleiten können, da es ihr heute Morgen nicht so gut gegangen war. Überhaupt schlief sie schlecht, seit sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Mac schien dauernd Albträume zu haben, wurde etliche Male in der Nacht wach. Doch wenn er sie darauf ansprach, blockte sie immer ab, dass es ihr gut ginge.

„Captain Rabb, Sir! Ich wollte mich wie versprochen verabschieden.“ Kate stand plötzlich vor ihm und riss ihn aus seinen Gedanken. In strammer Haltung verharrte sie und erwartete offensichtlich einen Befehl.
„Rühren, Commander“, schmunzelte er.
„So, jetzt bist du also offiziell der neue JAG in Europa. Wie fühlt sich das an?“ fragte Kate grinsend.
„Puh, nach einer Menge Arbeit und Verantwortung würde ich sagen. Und für dich geht es jetzt zurück in die Staaten?“

„Ja, ich darf Eskorte für Palmer's Leiche spielen. Keine Ahnung, warum sie ihn nicht einfach auf der Stelle einäschern. Aber er soll doch tatsächlich eine Familie haben, die darauf bestanden hat, dass sein Leichnam zurück in die USA überführt wird. Irgendwie schon schräg, findest du nicht?“
„Kaum zu glauben, dass es jemand geben könnte, der sich um diesen Menschen Gedanken macht.“ Harm schüttelte angewidert den Kopf.
„Wie geht es eigentlich Mac? Hat sie es einigermaßen überstanden?“

Harm zögerte erst mit einer Antwort, schüttelte dann aber den Kopf. „Nein. Ich denke, sie leidet mehr darunter, als sie zugibt.“
„Wie meinst du das?“ Kate schaute ihn besorgt an.
„Sie schläft schlecht, isst kaum in letzter Zeit. Wenn ich mit ihr reden will, dann sagt sie, sie sei einfach nur erschöpft, aber es gehe ihr gut.“
„Und das glaubst du nicht?
„Nein. Ich kenne meine Frau, Kate. Und ich merke, wenn sie etwas vor mir verbirgt. Aber ich kann sie ja schlecht zwingen, mit mir zu reden. Ich mache mir nur einfach Sorgen um sie“, seufzte Harm.
„Vielleicht solltest du ihr einfach mehr Zeit geben, damit fertig zu werden. Ich denke, wenn sie reden will, wird sie schon zu dir kommen.“
„Wahrscheinlich hast du Recht. Die Zeit heilt alle Wunden, richtig?“
„Zumindest die meisten. Ich muss jetzt los. Alles Gute euch zwei.“ Kate umarmte Harm zum Abschied. Sie zwinkerte ihm noch einmal aufmunternd zu, dann verließ sie das Büro.


Harm und Mac's Haus
Kensington and Chelsea, London
20:32 Uhr Zulu

Nach einem langen Tag betrat Harm endlich das heimische Wohnzimmer. Erschöpft stellte er seinen Aktenkoffer ab und hing seinen Mantel an den Garderobenhaken. Da unten niemand war, ging er die Treppe ins Obergeschoß hinauf.

Mattie's Tür stand einen Spalt weit auf, und er konnte hören, wie sie mit Ryan Sinclair telefonierte. Ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht. Harm ging weiter zu seinem und Mac's Schlafzimmer und öffnete vorsichtig die Tür. Mac lag zusammengerollt auf dem Bett und schlief bereits tief und fest. Diesen Anblick hatte er bereits seit langem nicht mehr genießen dürfen, da sie in den letzten Nächten oft nur unruhig geschlafen hatte.

Leise zog er erst die Schuhe und dann seine Uniform aus. Vorsichtig schlüpfte er zu Mac unter die Decke, darauf bedacht, sie nicht zu wecken. Behutsam legte er einen Arm um sie und kuschelte sich von hinten an sie heran. Im Schlaf musste Mac ihn jedoch gespürt haben, da sie instinktiv ihre Hand auf seine legte. Zufrieden lächelte Harm vor sich hin.

‚Die Zeit heilt alle Wunden', dachte Harm noch, ehe er ebenfalls in den Schlaf glitt. Doch heute Nacht würde er dafür sorgen, dass Mac's Wunden unsichtbar blieben.


Ende


Liebe Grüsse Petra

Kalorien sind kleine Tierchen, die nachts die Kleidung enger nähen.

 
Petra-Andreas
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