Monday Bloody Monday von Amy

#1 von Petra-Andreas , 07.05.2007 20:27

Titel: Monday Bloody Monday

Autor: Amy
Kategorie: Kurzgeschichte im Bereich Mystery
Zeitrahmen: 10. Staffel. Grundlage war die Folge „Alte Freundinnen“, in der es um Jennifer Coates und ihre Freundin Pia geht. Ich hab mir ein paar Freiheiten herausgenommen
Rating: PG / PG13
Disclaimer: Alle Rechte an der Fernsehserie, JAG und ihren Charakteren gehören noch immer Donald P. Bellisario, Belisarius Productions, CBS und Paramount.


MONTAGMORGEN
NÖRDLICH DER UNION STATION
WASHINGTON D.C.

"Deine Erscheinung wird das Schicksal anderer bestimmen."
Die Stimme hörte sich weit entfernt an, hallte leise, wie am Ende eines Tunnels.

Jennifer Coates schlug die Augen auf. Grau, in ihrem Schlafzimmer war alles in ein dunkles fahles Licht getaucht. Die Möbel und die Gardinen hatten verschiedene Grauschattierungen, wie bei einer Bleistiftzeichnung. Ihre Augen wanderten umher, die Augenlieder fühlten sich schwer an. In der hinteren, dunklen Ecke ihres Zimmers dachte sie, eine Gestalt ausmachen zu können, vielleicht waren es aber auch nur Schatten. Jennifer schloss die Augen wieder, blinzelte, dann blickte sie erneut in die Ecke aber niemand stand dort.

Der Regen prasselte ans Fenster, heute würde es nicht richtig hell werden, das wusste sie, wenn es erst einmal so regnete war es den ganzen Tag verhangen und trüb. Erst jetzt bemerkte sie, dass Musik lief. Ihr Radiowecker war an und U2 sang „Monday Bloody Monday“.

Hieß der Song nicht "Sunday Bloody Sunday"? Jennifer schüttelte leicht den Kopf und blickte dann auf die Leuchtziffern- 8:30. Mit einem Ruck setzte sie sich in ihrem Bett auf und registrierte ein leichtes Schwindelgefühl. Sie nahm es jedoch nicht weiter ernst, denn nur ein Gedanke beherrschte ihren Verstand - sie hatte verschlafen und sie würde zu spät ins Büro kommen. Mit dieser Tatsache im Kopf stand sie auf, wankte ins Bad und schaltete das Licht ein.

Leicht, sie fühlte sich leicht und irgendwie etwas ausgelaugt, erschlagen, fast marode. Was war denn gestern Abend nur los gewesen, dass sie heute verschlafen hatte und sich so seltsam fühlte? Ja richtig, Pia war mittags aufgetaucht und hatte erzählt, dass ihr Ex- Freund Vince sie suchen würde. Pia hatte schreckliche Angst gehabt, dass er sie umbringen würde. Jennifer konnte noch genau die angsterfüllten Augen von Pia vor sich sehen und wie sie gezittert hatte. Mit Vince war das so eine Sache.

Er war nicht nur Pias Ex- Freund, er war auch ihr Ex und er war brutal und erbarmungslos, deshalb hatte sie Pia Unterschlupf gewährt. Aber an den gestrigen Abend konnte sie sich nicht mehr erinnern. Hatten sie Alkohol getrunken? Nein, ein Kater fühlte sich anders an.

Jennifer drehte die Dusche auf, die brauchte sie jetzt um einen klaren Kopf zu bekommen, auch wenn sie sich dadurch noch mehr verspäten würde. Das heiße Wasser prasselte auf sie nieder, es fühlte sich nicht wirklich heiß an, obwohl der Dampf schon das ganze Badezimmer einhüllte.
Jennifer überlegt, während das Wasser an ihrem Körper herunter rann. Sie konnte sich wirklich nicht an den gestrigen Abend erinnern und wo war eigentlich Pia?

Jennifer war verwundert, sie hatte tatsächlich einen Filmriss. Wer weiß, was Pia und sie gestern angestellt hatten. Dabei wollte sie nie wieder auf die schiefe Bahn geraten, und auch Pia hatte ihr versichert, dass sie sich geändert hatte. Aber vielleicht hatte sie sich gar nicht geändert, vielleicht war es Pias Verdienst, dass sie sich heute Morgen so seltsam fühlte. Möglicherweise hatte sie ihr heimlich etwas verabreicht, vielleicht etwas ins Trinken oder ins Essen gegeben und war dann mit ihrem Geld abgehauen, das wäre ihr ähnlich, sie würde es nachprüfen.

Als Jennifer die Dusche abstellte, hörte sie das Telefon klingeln. Einmal, zweimal, dann war es aus. Wahrscheinlich war es jemand aus dem Büro gewesen. Vermutlich Commander Rabb, Colonel MacKenzie oder der Admiral persönlich. Ja, das würde eine kräftige Standpauke geben. Jennifer stieg aus der Dusche in das dunstgefüllte Badezimmer. Am Fenster und an den kalten Fliesen hatte der Dampf seine winzig kleinen Tropfen abgelegt und alles mit einer nassen Schicht überzogen. Jennifer stellte sich vor den angelaufenen Spiegel und wischte ihn mit der Hand frei. Der Spiegel zeigte ein verschwommenes Bild von ihr. Blass sah sie aus, mit dunklen Ringen unter den Augen. Das würde sich schon nach dem ersten Kaffee geben. Aber so richtig Appetit auf Kaffee hatte sie eigentlich gar nicht, tatsächlich hatte sie irgendwie einen komischen Geschmack im Mund, nicht dieser bekannte Morgengeschmack, irgendwie war es stärker, als hätte sie etwas Vergammeltes gegessen. Welche Drogen so was wohl auslösen konnten?

Jennifer nahm ihre Zahnbürste, drückte etwas von der blau weiß gestreiften Zahncreme darauf, die laut Werbung nach Minze schmecken und Eisfrische bringen sollte, und begann ihre Zähne zu schrubben. Aber so ganz wollte der seltsame Geschmack nicht verschwinden, selbst nachdem sie ihre Zunge in die ausgiebige Reinigung miteinbezogen hatte, war das gammelige Empfinden noch da. Sie legte die Zahnbürste weg, sie musste sich jetzt beeilen. Jennifer beugte sich nach vorne, lies ihre langen nassen Haare über den Kopf fallen und trocknete sie mit dem Fön an. Das musste genügen. Sie steckte die noch feuchten Haare zu einem Knoten zusammen. Hastig zog sie ihre Uniform an, schaute sich dabei nach Pia um, prüfte ihre Handtasche, das Geld war weg, und von Pia gab es auch keine Spur. Seltsam, aber jetzt hatte sie keine Zeit dafür, heute Abend würde sie sich darum kümmern, dann würde ihr Kopf auch etwas klarer sein. Sie öffnete gerade die Wohnungstür, als das Telefon erneut klingelte. Jennifer blieb stehen, blickte zu dem Telefon, dann zog sie die Tür hinter sich zu und ging die Treppen hinunter.

Nach dem fünften Klingeln sprang der Anrufbeantworter in ihrer Wohnung an und diesmal hinterließ der Anrufer eine Nachricht. „Hallo Jennifer, hier ist Commander Rabb, wo stecken Sie denn? Wenn Sie zu Hause sind, melden Sie sich bitte bei mir im Büro.“

Der Regen prasselte auf Jennifers feuchte Haare während sie ihre Wagentür öffnete und einsteigen wollte. Plötzlich hielt sie kurz inne- es war vielleicht keine gute Idee selber zu fahren. Sie schaute sich um. Die Corvette von Commander Rabb stand nicht auf ihrem Parkplatz, er war natürlich längst weggefahren. Sie hatte gehofft, dass der Commander sie hätte mitnehmen können. Wer wusste schon, welche Stoffe in ihrem Blut herum schwammen. Wahrscheinlich hatte sie dann auch noch das Glück, in eine Polizeikontrolle zu geraten und dann… Nein, sie würde mit der U-Bahn fahren, das würde zwar dauern, aber das war jetzt schon fast egal. Jennifer nahm den Regenschirm von der Rückbank, schlug die Autotür zu und machte sich auf den Weg zur Union Station. Vielleicht sollte sie nun doch lieber im Hauptquartier anrufen und erklären, dass sie sich verspäten würde, denn wenn sie mit der U-Bahn fahren würde, würde sie das mehr Zeit kosten, als mit dem Auto. Sie würde umsteigen müssen und das Stück von der Haltestelle in Falls Church bis zum Hauptquartier musste sie auch zu Fuß zurücklegen.

In der U-Bahn zog sie ihr Handy heraus und blickte auf das Display- keine Verbindung. Dieser Montag fing wirklich nicht gut an.

Zur selben Zeit, während Jennifer im Untergrund von Washington DC unterwegs war und verärgert auf ihr Handy starrte, stieg in Falls Church Commander Rabb in seine Corvette und machte sich auf den Weg, um zu überprüfen, ob bei Jennifer Coates alles in Ordnung war.
Sie war heute nicht pünktlich zum Dienst erschienen und reagierte nicht auf die Anrufe, und das war sehr sonderbar, um genau zu sein: Es war nicht ihre Art. Jennifer war sehr darauf bedacht, alles richtig zu machen, um in einem guten Licht zu erscheinen. Sie wollte allen zeigen, dass ihre diebische Vergangenheit hinter ihr lag und sie sich geändert hatte.
Commander Harmon Rabb hatte ein sehr seltsames Gefühl, als er sich an diesem Montagmorgen in seinem Auto anschnallte und vom Parkplatz des JAG Hauptquartiers fuhr.

Kurze Zeit später bog Harm mit der Corvette auf den Parkplatz des Apartmenthauses ein. Er sah das Auto von PO Jennifer Coates davor stehen. Sie war also noch zu Hause. Er sprang aus dem Wagen, rannte durch den Regen, öffnete in Windeseile die Eingangstür und nahm immer zwei Stufen auf einmal hinauf zu Jennifers Apartment.

Mit der Faust hämmerte er gegen ihre Wohnungstür. „Jennifer? Hier ist Commander Rabb. Ist alles in Ordnung?“ Harm hielt kurz inne und lauschte, aber er konnte nichts hören. Das seltsame Gefühl, dass er seit dem Verlassen des JAG Parkplatzes hatte, wurde stärker. Er begann erneut gegen die Tür zu trommeln und rief dabei etwas lauter: „Jennifer machen Sie bitte die Tür auf, ich weiß, dass Sie da sind, Ihr Auto steht unten.“

Harm hörte auf gegen die Tür zu hauen und horchte konzentriert, ob sich etwas hinter der Tür regte. Aber nichts war zu hören. „Jennifer, ich werde jetzt den Ersatzschlüssel holen und hereinkommen, wenn Sie nicht aufmachen und mit mir reden.“ Wieder keine Antwort. Mit schnellen Schritten ging Harm zu seiner Wohnung, holte den Zweitschlüssel, den er noch von Mattie hatte und eilte wieder zurück. Sein Herz klopfte wild, als er den Schlüssel ins Schloss steckte und herumdrehte. Die Tür war nicht abgeschlossen, was seine Theorie, dass Jennifer zu Hause sein musste, nur noch bestärkte. Langsam öffnete er die Tür einen Spaltbreit. „Jennifer?“ - Keine Antwort.

Er späte in die Wohnung: Alles schien in Ordnung zu sein. Harm betrat das Apartment. Das seltsame Gefühl, eine Art Vorahnung, machte sich in ihm breit. Sein ganzer Körper begann zu kribbeln, als er sich wachsam durch die Wohnung bewegte. „Jennifer?“ fragte er in die Stille hinein- noch immer erhielt er keine Antwort. Im Wohnzimmer und in der Küche war niemand, alles war sauber und aufgeräumt, die Tür zum Badezimmer stand offen und ein Blick hinein verriet Harm, dass auch dort niemand war. Schließlich geriet die Schlafzimmertür in sein Blickfeld, sie stand einen Spalt weit offen. Langsam bewegte er sich darauf zu, das Kribbeln in seinem Körper wurde stärker und fühlte sich jetzt an, als würde Strom durch seine Adern pulsieren. Vorsichtig gab er der Tür einen Stoß, sie glitt auf und gab einen grauenhaften Anblick frei.

Als Jennifer schließlich das Hauptquartier erreicht hatte, hatte sie sich bereits innerlich auf eine Konfrontation mit Admiral Chegwidden vorbereitet. Grauer Regen platschte auf sie nieder, trommelte auf ihren Regenschirm. Schnell überquerte Jennifer den Parkplatz, stellte flüchtig fest, dass der Wagen des Commanders nicht da war, grüßte den Wachdiensthabenden, der sie nicht zurückgrüßte und betrat das rote Backsteingebäude. Wenigstens war der Aufzug gleich da.

Als sie aus dem Fahrstuhl trat, hatte sie irgendwie damit gerechnet sofort auf den Admiral zu treffen und mit seinen zurechtweisenden Blicken begrüßt zu werden. Stattdessen schien niemand wirklich von ihr Notiz zu nehmen, was ihr im Grunde nur recht war. So konnte sie noch einmal tief Luft holen, bevor sie sich in die ‚Höhle des Löwen’ wagte.

Während sie durch das Foyer ging, noch immer mit diesem leichten Gefühl und etwas schwankend, bemerkte sie die seltsame Stimmung, die in der Luft lag und diese irgendwie schwirren ließ, als wäre sie elektrisch. Harriet hatte gerötete Augen, sie sah verweint aus und Bud schüttelte immer wieder ungläubig den Kopf. Jennifer schaute auf die Fernsehbildschirme. ZNN übertrug ständig die neuesten Nachrichten. War etwas Schlimmes passiert? - Sie konnte keine katastrophalen Nachrichten feststellen. Ihr Blick wanderte zu den Büros der Anwälte, die Tür von Colonel MacKenzies Büro war geschlossen, die Jalousien heruntergelassen. Die Tür des Commanders stand offen, seine Jacke hing nicht am Ständer. War ihm vielleicht etwas zugestoßen? Sie wollte gerade Harriet ansprechen, als sich die Tür zur ‚Höhle des Löwen’ öffnete und Admiral Chegwidden heraustrat. Jennifer eilte auf ihn zu. „ Ich…“, begann sie, doch der Admiral schritt an ihr vorbei und verschwand in Macs Büro.

Missachtung war auch eine Art Bestrafung, er würde seine Standpauke schon noch loswerden, da war sich Jennifer sicher.

Langsam setzte sie sich hinter ihren Schreibtisch und begann die Ablage durchzusehen. Wenn sie sich so unauffällig wie möglich benahm, konnte sie die Strafpredigt vielleicht noch etwas herauszögern. Sie schob Unterlagen vor sich hin und her, öffnete einige. Die Buchstaben verschwammen immer wieder vor ihren Augen und sie konnte sich nicht richtig konzentrieren. Vielleicht hätte sie sich heute einfach krank melden sollen. Und dieser üble Geschmack, während der U-Bahnfahrt hatte sie ihre ganze Packung Kaugummis verbraucht. Jennifer schluckte schwer. Ihr Mund fühlte sich trocken und pelzig an. Vielleicht würde sie auch eine Erkältung bekommen. Pia fiel ihr wieder ein und die ungeklärte Frage, was in der letzten Nacht geschehen war. Noch immer konnte sie sich nicht erinnern. Hoffentlich würde es ihr wieder einfallen.

Sie schlug gerade einen weiteren Ordner zu, als Harriet plötzlich vor ihr auftauchte. „Oh Jennifer“, sagte sie bedauernd.
„Sehe ich wirklich so schlimm aus?“, fragte Jennifer.
Harriet seufzte und sah sie mit traurigen Augen an, die Jennifer als: >was soll ich darauf nur antworten<, interpretierte. „Na gut, sagen Sie lieber nichts, ich fühle mich auch nicht besonders“, meinte sie schließlich zu Harriet.

Harriet trat näher an den Schreibtisch heran und griff langsam zum Locher. „Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich mich an Ihrem Schreibtisch bediene“, sagte sie leise, als würde sie zu sich selbst sprechen.

„Nein, ganz und gar nicht.“ Jennifer sah Harriet verwirrt nach, die nun wortlos zurück zu ihrem Platz schlich. Dann blickte sie noch etwas im Foyer herum, es fiel ihr auf dass auch hier alles grau in grau zu sein schien, so wie bei ihr zu Hause und in der U-Bahn. Das musste wohl an diesem regnerischen Wetter liegen oder an Pia oder daran, dass es ein lausiger Montag war. Aber Montage waren immer miserabel. An Montagen gab es mehr Verkehrsunfälle, an Montagen waren mehr Menschen krank und Kinder waren montags am unausgeglichensten…

Seufzend wandte sie sich wieder ihren Ordnern zu und versuchte einige Minuten lang ihrer Arbeit nachzugehen. Dabei schaute sie immer wieder zu der geschlossenen Tür von Colonel MacKenzie, der Admiral kam einfach nicht heraus, es war ein blödes Gefühl darauf zu warten eine Strandpauke vom ihm zu erhalten, dazu kam noch, dass sie sich immer abscheulicher fühlte.
Sie lehnte sich im Stuhl zurück und fuhr sich mit der Hand über die Stirn, Fieber hatte sie keins, aber trotzdem fühlte sie sich matt. Es wäre wohl doch am besten wieder nach Hause zu fahren, sich ins Bett zu legen und diese Erkältung oder was immer es war auszukurieren. Sie blickte in das Foyer, sie würde nach Hause gehen, doch weder Harriet noch Bud waren zusehen und die Tür zu Colonel MacKenzies Büro war noch immer geschlossen, da sollte sie vielleicht lieber nicht stören.

Sie würde eine Nachricht hinterlassen, dass sie sich unwohl gefühlt habe und wieder gegangen sei, mit tausenden von Entschuldigungen. Sie kramte aus der Schublade einen Block hervor und begann zu schreiben. Ihre Hand sah sehr weiß aus, fast schon ein wenig durchscheinend. Schließlich legte sie den Stift zur Seite, ging in das Büro des Admirals und legte die Nachricht auf seinen Schreibtisch, direkt vorne hin, so, dass er sie gleich sehen würde.


Einige Zeit später…

Admiral Chegwidden war auf dem Weg zu seinem Büro, seine Schritte wurden langsamer als er an dem Schreibtisch von PO Jennifer Coates vorbei kam. Schließlich blieb er stehen, blickte auf den leeren Stuhl, schüttelte den Kopf und ging in sein Büro. Sorgfältig schloss er die Tür hinter sich und setzte sich an seinen Schreibtisch. Dieser Montag war ein schlechter Montag. Schlechte Nachrichten. Vor allem die Entdeckung, die Rabb an diesem Morgen gemacht hatte...

Eine Weile blickte der Admiral vor sich ins Leere. Dann kehrte er wieder zurück und überflog die Zettel auf seiner Ablage, direkt vor ihm lag ein weißes unbeschriebenes Blatt Papier. Einen Moment betrachtete er es stutzig, dann legte er es zur Seite. Anschließend griff er zum Telefon, um Commander Rabb nach Neuigkeiten zu befragen.

Jennifer war in die Red Line umgestiegen und hatte sich ans Fenster gesetzt, sie saß gerne am Fenster und sah sich die Menschen auf den Bahnsteigen an- das emsige Treiben der Leute, wenn sie in die U-Bahn einstiegen oder andere, die da standen mit einem Buch in der Hand, wartend auf die nächste Bahn.

Zwei Stationen vor der Union Station hielt die Bahn wie gewöhnlich an der Gallery Pl/Chinatown. Jennifer blickte auf den Bahnsteig. Es war viel los, hier konnte man in die Green und Yellow Line umsteigen. Touristen gingen am Fenster vorbei mit Stadtplänen in den Händen und Rucksäcken auf den Schultern. Ein Pärchen stritt sich und die Frau gestikulierte in der Luft herum. Auf dem Gleis der gegenüberliegenden Seite fuhr gerade die Bahn weg.

Dann, ganz plötzlich tauchte er auf, wie aus dem Nichts, sein Gesicht an der Fensterscheibe dicht vor ihr. Vince- ihr Ex. Er starrte sie an, mit weit aufgerissenen Augen, das Gesicht fassungslos, fast schockiert und plötzlich farblos werdend. Seinen Mund riss er auf zu einem Schrei, den sie nicht hören konnte und der sein Gesicht zu einer Fratze entstellte.
Jennifer schaute ihn verwirrt an, durch die Scheibe, auf die jemand mit dicken schwarzen Edding seine Schmiererei hinterlassen hatte. Sie stand von ihrem Platz auf und legte die Hand an die Scheibe, sie verstand nicht, warum Vince sich so aufführte, was war nur los?

Er taumelte einige Schritte nach hinten, den Blick noch immer auf sie gerichtet, und noch immer mit dem Ausdruck des Entsetzens auf seinem Geicht. Zuerst waren seine Schritte langsam, dann wurden sie schneller, als wollte er vor ihr wegrennen. Er hastete, immer noch den Blick auf sie geheftet und ohne sich seiner Umgebung bewusst zu sein, rückwärts den gegenüberliegenden Gleisen entgegen.

Dabei stieß er gegen das streitende Pärchen, bemerkte es nicht, flüchtete weiter zu den verhängnisvollen Gleisen, mit dem Blick in ihre Richtung als sehe er ein Monster.
Augenblicklich erkannte Jennifer die Gefahrenlage. Sie fing an zu schreien, gestikulierte zu der Bahn, die auf den Gleisen hinter ihm eingefahren kam.

Es ging ganz schnell. Vince hastete weiter, stürzte auf die Schienen hinab in demselben Moment, in dem die Bahn kam. Er wurde mitgerissen, innerhalb von Sekunden zermalmt und zerquetscht. Seine Knochen brachen, Gliedmaßen wurden abgerissen, dunkelrote Eingeweide verteilten sich mit blasser Gehirnmasse auf Schienen und Bahn. Die Bremsen quietschten. Jennifer schrie und ihr Schrei klang nur in ihren Ohren.

Die Bahn, in der Jennifer saß, hatte sich in dem Augenblick in Bewegung gesetzt, in dem Vince auf die Gleise gestürzt war, der gegenüberliegende Zug mit der blutverschmierten Frontseite wurde kleiner, während sie sich immer schneller fortbewegten und im Tunnelschacht verschwanden. Doch kurz bevor sie in das dunklen Loch eintauchten, hatte sie es gesehen, vielleicht nur eine Sekunde lang aber mit Gewissheit. Eine Gestalt hatte auf den Gleisen gestanden, groß, in eine schwarze Robe gehüllt, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, so dass keine Gesichtszüge zu erkennen waren, wenn es denn überhaupt welche gehabt hatte. Vielleicht hatte sie ein Glühen tief in der Kapuze gesehen, ein Glühen wie von heißen Kohlen. Aber sie war sich nicht sicher, sie war sich nur sicher, dass Vince tot war und ihn jemand abgeholt hatte.

Jennifer war aus der U-Bahn ausgestiegen und wie in Trance den Weg von der Union Station zur ihrem Apartment gelaufen. Sie hatte schon auf der Straße die Polizeiautos gesehen und auch die rote Corvette des Commanders. Wer wusste, in welche Sachen er schon wieder verstrickt war? Sie hatte keine Lust darüber nachzudenken, sie wollte nur in ihr Bett.

Sie fuhr mit dem Aufzug zu ihrer Wohnung. Sie fühlte sich, als wäre sie der Welt entrückt, als würde sie nicht mehr daran teilhaben. Noch immer empfand sie sich leicht, fast noch leichter als sie sich den ganzen Tag schon gefühlt hatte. Der eklige Geschmack war mittlerweile unerträglich geworden und zusätzlich war ihr schwindelig und kalt. Jennifer rieb sich mit den Händen die Oberarme. Sie fühlte sich einfach elend und sie sehnte sich nach Ruhe. Sie vermutete, dass sie einen Schock hatte.

Als sie aus dem Aufzug trat, noch immer die Hände um ihre Oberarme geschlungen, blieb sie stehen. Der Gang war voll von Polizeibeamten, sie redeten durcheinander. Waren die etwa wegen Pia hier? War sie zurückgekommen? Und was war in der letzten Nacht nur geschehen? Wenn sie sich doch nur erinnern könnte. Sie ging schneller.
„Ja, die ist mausetot“, hörte sie einen der Beamten sagen.

Mein Gott, Pia! War es denn möglich, dass sie Pia meinten? Was war passiert? Was für ein schrecklicher Montag! Jennifer quetschte sich zwischen den Beamten hindurch. In ihrer Wohnung waren noch mehr davon, einer steckte etwas mit seinen behandschuhten Fingern in eines dieser Plastiktütchen und verschloss es gewissenhaft. Am anderen Ende ihrer Wohnung sah sie Commander Rabb stehen, der auf einen Beamten einredete und etwas fahl um die Nase herum aussah.

Jennifer drehte sich um, sie wollte sofort wissen, was hier los war. Ihr Blick fiel auf ihr Schlafzimmer, die Tür stand offen. Langsam ging sie darauf zu. Zwei Beamte standen vor dem Bett, redeten miteinander, versperrten ihr die Sicht.
„Sie ist wahrscheinlich schon seit gestern tot, aber genaueres werden wir erst nach der Obduktion sagen können.“
„Na, die hatte aber auch keinen tollen Sonntag.“
„Wurde wahrscheinlich im Schlaf überrascht, den Typen werden wir bald haben.“

Jennifer schaute auf den Boden, Blutspritzer waren darauf verteilt, als hätte jemand mit einem Rasensprenger Himbeersaft verspritzt. Die Beamten, drehten sich um und verließen das Zimmer. Dass die beiden Polizisten sie nicht registrierten, bemerkte Jennifer nicht. Ihr Blick war starr auf das Bett gerichtet, aus dem sie heute Morgen aufgestanden war…

Sie stierte auf die Frau herunter, auf das Gesicht mit den langen braunen Haaren- auf ihr Gesicht, auf ihren Körper, der da lag mit offenen Augen, die in die Leere starrten und glasig wirkten. Ihr Nachthemd: Blutverschmiert, ein Arm aus dem Bett heraushängend, an dem das Blut klebte, dunkelrot und bereits getrocknet.
Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr und sie drehte den Kopf in die Ecke in der sie heute Morgen schon den Schatten gesehen hatte. Eine Gestalt- aber keine schwarze Robe.

"Deine Erscheinung wird das Schicksal anderer bestimmen"

Sie erinnerte sich an die wenigen Sekunden, bevor sie an diesem Morgen aufgestanden war und diesen Satz gehört hatte. Sie fing an zu begreifen, konnte sich wieder erinnern. An alles. Sie konnte sich an die grauenvollen Schmerzen erinnern, die ihren Körper durchdrangen und sie aus dem Schlaf gerissen hatten. Sie konnte sich daran erinnern, wie Vince im dunklen Schlafzimmer auf ihr gekniet hatte, mit dem Messer in der Hand, das er ihr schnell und immer wieder in den Bauch und den Brustkorb gerammt hatte und ihr dabei ein Handtuch auf den Mund gepresst hatte, so dass keine Schreie nach draußen drangen, bis sie schließlich keine Luft und keine Flüssigkeit mehr zum Leben gehabt hatte.

Sie war tot.

Und sie hatte diesen Montag als geisterhafte Gestalt verbracht, deshalb der seltsame verwesende Geschmack und das merkwürdige Gefühl sich aufzulösen.
Und Vince? Sie hatte durch ihre nicht mehr menschliche Erscheinung das Schicksal von Vince bestimmt! Er hatte sich wirklich zu Tode erschrocken, als er sie in der U-Bahn sitzen gesehen hatte, wo er doch sicher gewesen war, sie umgebracht zu haben. Warum er sie sehen konnte aber nicht die anderen, wusste sie auch nicht, vielleicht weil zwischen Opfer und Täter immer eine besondere Verbindung entstand.

Während das alles plötzlich glasklar vor ihr lag, zerflossen die Umrisse ihres Schlafzimmers, wie die Uhren von Salvador Dali. Die grauen Schattierungen veränderten sich zu anderen neuartigen Farben. Konturen verschwammen miteinander, vermischten sich immer stärker und vermischten sich schließlich auch mit ihr, lösten sie auf, während aus dem Radiowecker, der schon seit den frühen Morgenstunden an war und den noch niemand ausgestellt hatte, Sunday Bloody Sunday erklang.


Ende


Liebe Grüsse Petra

Kalorien sind kleine Tierchen, die nachts die Kleidung enger nähen.

 
Petra-Andreas
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